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Die Sterblichkeit des Meeres

Fragil, dunkel und schützenswert: Schon 1861 warnte Jules Michelet in seiner höchst politischen und rasant geschriebenen Naturbetrachtung vor dem Leerfischen der Ozeane. Nun ist mit seinem Buch „Das Meer“ eine der wichtigsten Studien des 19. Jahrhunderts neu aufgelegt worden

Amerika wollte auf dem Seewege mit dem ganzen Erdball in Verbindung treten

VON CORD RIECHELMANN

„und das macht uns zu brüdern mit dem tag am meer“ – Die Fantastischen Vier in „Tag am Meer“

Die Idee, dass alles Leben aus dem Meer kommt, soll um 500 vor unserer Zeit zuerst der griechische Naturphilosoph Thales von Milet verbreitet haben. In der Epoche der ionischen Naturphilosophie entwickeln die vorsokratischen Denker – neben Thales sind das Heraklit, Anaximenes und Empedokles – auch die Lehre von den vier Elementen. Erde, Wasser, Luft und Feuer sind demnach die Essenzen, die die Welt ausmachen. Dabei bleiben das Meer, in dem das meiste Wasser aufgehoben ist, und das Feuer die unheimlichen Größen. In der Luft fliegen die Vögel und manchmal auch die Götter, auf der Erde laufen die Tiere und die Menschen. Aber was lebt im Feuer und im Meer?

Ob es Feuerwesen überhaupt geben kann, war eine lange und bis in unsere Tage umstrittene Frage. Und auch die neuesten Kenntnisse von dem vielgestaltigen Leben in den unvorstellbar heißen vulkanischen Glutausstößen in den ebenso unvorstellbaren Tiefen der Weltmeere machen die Vorstellung, im Feuer zu leben, nicht gerade angenehm. Gegen das Leben im Feuer wird selbst der Gedanke akzeptabel, ein Meerwesen mit dicker Haut zu werden, wie die Wale sie haben.

Es fällt nicht leicht, die Elemente Feuer und Wasser (Meer) zusammenzudenken. Brennende Wälder löscht die Feuerwehr mit Wasser. Der Gegensatz von Feuer und Wasser ist so stark, das er sprichwörtlich geworden ist. Und doch und wie zum Trotz gegen die Unvereinbarkeit der Elemente überschreibt Jules Michelet das vierte Kapitel seines gerade wieder aufgelegten naturphilosophischen Buches „Das Meer“ so: „Der Kreis des Wassers, der Kreis des Feuers, die Ströme des Meeres“.

Die Überschrift sieht aus wie der klassische Dreiklang der Hegel’schen Dialektik mit These (Wasser), Antithese (Feuer) und befriedeter Synthese (Golfstrom) und hat doch mit der Versöhnungstrias des preußischen Staats- und Hofphilosophen nichts zu tun. Dazu ist der französische Historiker Michelet viel zu sehr Amerikaner.

Allein an Hand dieses Kapitels kann man Michelets Methode exemplifizieren, die seine bekannteren großen geschichtlichen Studien wie die monumentale „Geschichte der Französischen Revolution“ genauso ausmachen wie die kleineren naturphilosophischen Schriften. Er erschließt seinen historischen Gegenstand in mehreren Schichten. Das bloße Ereignis – hier: die Entdeckung der Meeresströme – wird mit dem Wandel der Lebenseinstellungen zum Meer konfrontiert. Dadurch erschließt sich ihm der Wandel der kollektiven Mentalität in der Geschichte. Das ist nichts weniger als der Beginn der Mentalitätsgeschichte.

Es geht im Meeresstromkapitel um „zwei gewaltige Ströme warmen Wassers“, die von den „flammenden oder erloschenen Vulkanen, in Indien oder auf den Antillen, von der kubanischen und der javanischen See“ ihren Ausgang nehmen, um „dem Norden seine Wärme zuzuführen“. Man könnte sie „die beiden Hauptschlagadern der Erde nennen“, schreibt Michelet weiter. Der indische und der amerikanische Warmwasserstrom erzeugen den „Puls des Meeres“. Das sind bei Michelet nicht bloß Metaphern. Das Meer ist für ihn „etwas Belebtes, eine vitale Kraft“, die „fast eine Person darstellt.“ Der christlichen Vorstellung, die im Meer etwas, wie er es zusammenfasst, „aus einem Stück Geschaffenes sieht, eine Maschine, die unter dem Schutz der göttlichen Hand steht und als solche funktioniert“, entzieht er so den Boden.

Das Christentum und seine Priester sind Michelets erster Gegner, womit er sich aber nicht lange aufhält. Entscheidender ist, dass er mit der Personalisierung auch die Sterblichkeit des Meeres einführt. Tatsächlich ist „Das Meer“ die erste materielle Betrachtung der ökologischen Realitäten und Gegebenheiten der Wassermassen. Michelet hat ein für seine Zeit – „La mer“ erschien in Frankreich 1861 – unglaublich konkretes Bewusstsein von der Empfindlichkeit und Fragilität des Meeres. So warnt er ausdrücklich vor der Überfischung und fordert ein Walfangverbot, das dann 1982 auch in die Tat umgesetzt wurde. Das kann man weitsichtig nennen. Und wer bei Büchern, die schon etwas älter sind, zuerst nach der gegenwärtigen Bedeutung fragt, muss nur die aktuellen Meldungen vom demnächst zu erwartenden Versiegen des Golfstroms mit dem Meeresströme-Kapitel konfrontieren und wird klarer sehen, was das heißt.

Dass Michelets Warnungen damals und heute immer noch in den Wind gesprochen sind, hat etwas mit seinem neben den Klerikalen zweiten großen Gegner zu tun. In Michelets Worten: mit dem „englischen Gold“. Der Begriff vom englischen Gold ist mehr emotional als analytisch. In ihm verbindet Michelet seine Abneigung gegen alles Englische mit seiner Kritik am Maschinenwesen. Die industrielle kapitalistische Produktionsform wird für ihn zur Bedrohung von Mensch und Natur, da sie dank ihrer immer besser werdenden Instrumente sämtliche Ressourcen immer nur mit einem Interesse verwertet: sie zu Geld zu machen.

Michelet, der selbst weder ein Segler noch ein Meeresreisender war, blickt dagegen wie die Alten oder die Kinder von der Küste aus aufs Meer und fürchtet sich vor der bis zum Horizont reichenden Schranke. „Für alle auf dem Land lebenden ist das Wasser das nicht zu atmende, das erstickende Element schlechthin. Eine zeitlose, schicksalhafte Schranke, die unwiderruflich die beiden Welten voneinander scheidet“, schreibt er. Und so vor der rätselhaften, wundersamen Unermesslichkeit des Meeres stehend, fragt er sich, wem wir eigentlich die Erkundung und Entdeckung der Meere verdanken. Wer hat den Erdball mit seiner zwei Drittel der Erdoberfläche bedeckenden Wassermasse erschlossen?

Michelet betreibt mit seinen Überlegungen zum Meer bereits Mentalitätsgeschichte

Michelets Antwort lautet: Es waren die Waljäger, die dem Wal in die große finstere Öde der Ozeane folgten, um ihn zu fangen. Ohne den Wal wären die Fischer immer nur an der Küste geblieben. Durch den Wal hat man die Meeresströmungen entdeckt und den Durchgang im Norden gefunden. Columbus und die goldsuchenden Kapitäne seiner Majestät haben nur das entdeckt und mit großem Getöse verbreitet, was die Walfänger aus dem Norden, der Bretagne und dem Baskenland längst wussten.

Es sind zwei deutsche Autoren, die verschiedener nicht sein könnten, der Staatsrechtler Carl Schmitt und der kürzlich verstorbene Publizist Uwe Nettelbeck, denen unabhängig voneinander die tiefe Verwandtschaft zwischen dem 1851 erschienen „Moby Dick, or, The White Wale“ und Michelets zehn Jahre später veröffentlichter Meeresbetrachtung auffallen. Schmitt hat in „Land und Meer“, seinem schönsten Buch, das aus einer Erzählung für seine Tochter hervorging, Melville und Michelet zusammencollagiert und die Strukturidentität beider offenbart. Nicht pomphafte Staatsschiffe eröffnen den Weg zu einer neuen maritimen Existenz, „sondern wilde Abenteurer und Seeschäumer, kühne, die Ozeane durchstreifende Waljäger und wagende Segler“ (Schmitt). Bei dem sonst am Staat, das heißt am Land mit seinen Grenzen bis zur grausamen Vollstreckung jedes gesetzten Rechts klebenden Schmitt sind das seltsam helle Stellen, die noch mehr glitzern, wenn man weiß, das der Apologet der alten europäischen Rechtsform die Vereinigten Staaten von Amerika nicht für einen Staat hielt.

Warum hat Amerika bei der Entdeckung der Meere mehr geleistet als wir, fragt Michelet und liefert die Antwort gleich mit: „Amerika heißt junges Begehren. Ein junger Kontinent brennt darauf, mit dem ganzen Erdball in Verbindung zu treten.“ Die Weltseele ist an keinen Ort mehr gebunden, sie wird universell, und wo kann man sie besser finden als im Meer, bei der großen Mutter, der Magna Mater, der wir alle unser Dasein verdanken? „Unsere Wiesen, unsere irdischen Wälder scheinen öd und leer, vergleicht man sie mit denen des Meeres“, zitiert Michelet Charles Darwin. Darwin, den Theoretiker des Kampfes ums Dasein auf den engen, ressourcenknappen Inseln dieser Welt, mit einem solchen Zitat, das dessen ganze Knappheitsrhetorik mit ein paar Worten aus dem Leben kippt, vorzuführen, zeugt vom kalten Kalkül Michelets. Nur ein paar Seiten weiter führt er im Kapitel „Der Weltenmacher“ mit Jean Baptiste Lamarck, dem Begründer der Theorie von der Veränderbarkeit der Arten und Vorläufer Darwins, seinen Theoretiker des Lebens ein. Der „Homer des Museums“ habe „ein großes, revolutionäres Aufgebot gegen die Trägheit der Materie“ geschaffen. Lamarck habe das Unorganische aufgehoben und den Tod aus der Wissenschaft vertrieben. „Was einmal gelebt hat, schläft vielleicht und bewahrt ein latentes Leben, eine Fähigkeit, neu aufzuleben“, fasst Michelet Lamarcks Lehre zusammen. Alles Leben, alle Körper sind ständig im Werden begriffen, auch der Stein ist nicht Stein, sondern Geist.

Der Gedanke der Einheit von Natur, Geist und Materie ist es, der Michelet bewegt, sich den Elementen zuzuwenden. Dabei übersieht er die ewigen Kämpfe „des Menschen gegen die Natur, des Geistes gegen die Materie, der Freiheit gegen das Verhängnis der Vorherbestimmung“ nicht. Geschichte und Geschichtenerzählen ist für Michelet nichts anderes als der Bericht von diesem Kampf mit der Aussicht auf der am Horizont wohnenden Erlösung von Stein, Mensch und Tier.

Uwe Nettelbeck hat in der Nummer 82–85 seiner Zeitschrift Republik eine Erzählung Michelets über die reinigende Wirkung von Geiern auch in Städten wie Alexandria und Kairo mit seinen Forschungen zu Melville und einem Porträt Jean-Paul Marats verbunden. Besser kann man die Kraftfelder von Michelets Geschichtserzählung nicht zusammenführen.

Jules Michelet: „Das Meer“. Übersetzt von Rolf Wintermeyer. Campus 2006, 357 Seiten 19,90 €

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