Metaphysik aus dem Kaufhaus

Wo sich Zungen verknoten und Resonanzen im Kuss ersticken: In David Martons Oper „Der feurige Engel“ entstehen Gesten und Geschichten aus der Musik und dem Warenkatalog des Kaufhauses. Da mischen sich Popstimme, Alt und Chor zum überraschend samtigen Klang in den Sophiensælen

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Vier statt der üblichen zwei Hände trommeln sich wund an dem Klaviertremolo, mit dem Schuberts Lied „Der Erlkönig“ beginnt. Die Verdoppelung verleiht dem akustischen Zittern der Tasten einen ins Elektroakustische gehenden, fast übernatürlichen Zug. Der Erlkönig tritt auf und lockt: „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir.“ Das war’s. Der Verführer geht ab, der Rest des Liedes bleibt ungespielt. Zwei Klaviertöne und zwei Textzeilen genügen dem Regisseur David Marton, um in seinem Stück „Der feurige Engel“ den Grusel des nächtlichen Ritts heraufzubeschwören.

David Marton fragmentiert und rekontextualisiert Musik. Er legt sie auf ihr erzählendes Potenzial fest und erhebt sie zur eigentlichen Substanz seines Stückes. Von den wenigen gesprochenen Passagen einmal abgesehen wird in „Der feurige Engel“ fast alles auf einer musikalischen Bedeutungsebene dargestellt. Der Roman des russischen Symbolisten Valeri Brjussow, der hier dem Titel nach „veropert“ worden ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Auch die Figur des „Homo Faber“, der mehrfach der Grundlegung vernünftelnder Skepsis halber angerufen wird, trägt das Stück nicht allein. Aber zwischen diesen beiden Polen, Brjussows dämonischer Engelslehre und Frischs technokratischer Ratio, öffnet sich das Sujet des Stücks: die Frage nach dem Übersinnlichen, Unerklärlichen und dem Transzendenten.

Gibt es Vorahnungen? Existiert Gott? Besteht Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod? Das wären so ziemlich die langweiligsten Fragen der Welt, hätte das Stück nicht ein paar bissfeste Antworten parat. Vor allem ist es das Medium selbst, die Musik nämlich, die hier zum übersinnlichen Medium, zur Antenne zum Jenseits wird: Von der dämonisierten Violine (Nurit Stark) bis zum gespensterhaften Theremin (Marie Goyette), von den transzendenten Klavierstücken Franz Liszts bis zum biblischen „The Dancer“ von PJ Harvey, von einem entrückten „Kyrie“ Palestrinas bis zur Liebesschnulze eines Cole Porter.

Da ist es durchaus passend und wohl auch ein wenig selbstironisch gemeint, dass man das Stück in der Musikabteilung eines Kaufhauses angesiedelt hat. Im Warenhaus der Kulturen lässt es sich ganz ungezwungen und ohne Erklärungsnot zwischen den Genres, Epochen und Stilen herumpoltern. Hier stehen das gepflegte Kammerkonzert neben ekstatischen Rockismen, Chorseligkeiten neben tönender Einsamkeit. Wem das zu sehr nach Revuetheater klingt, dem sei gesagt: Ja, auch das wird gespielt.

Nun lässt sich über ein derart konzipiertes Stück nicht reden, ohne das Paradigma zu benennen, auf dem es beruht. Anfang der Neunzigerjahre hatte Christoph Marthaler musikalische Zusammenhänge in theaterfähigen Stoff verwandelt. Von den Bewegungsabläufen bis zum akustischen Erscheinungsbild der Stücke wurde Musik da zum selbstverständlichen Movens allen Handelns. An diese Tradition knüpft Marton an. Aber wo Marthaler den Ton gewissermaßen aus der Geste heraus gebiert, seine Musik also als Konsequenz seines dramatischen Denkens entsteht, verhält es sich bei Marton umgekehrt. Bei ihm nötigt die Musik zur Geste und die Wahl der Kompostionen gibt die Themen vor.

Dieser Unterschied bleibt nicht ohne Folgen. Marton besetzt seine Stücke zum Beispiel nicht – wie Marthaler – mit musizierenden Schauspielern, sondern mit schauspielenden Musikern. Ein wenig quälen sich die Ensemblemitglieder dann auch durch die wenigen Sprechpassagen des Stücks. Der musikalische Vortrag hingegen gerät, auch angesichts der szenischen Verankerung der Stücke, vollkommen bravourös. Das gilt vor allem für die Chorpassagen, in denen der auratische Alt (Theresa Kronthaler) und die mit rauem Schmelz versehene Popstimme (Yelana Kuljic) von den flacheren, ungekünstelten Stimmen der Instrumentalisten zu einem samtigen Ganzen ergänzt werden.

Marton, der bereits mit theatralischen Bearbeitungen der Opern von Henry Purcell und Carl Maria von Weber in den Sophiensælen auffällig geworden ist, ist ein so musikalisch hochwertiger wie szenisch unterhaltsamer Abend gelungen. Endlich einmal parodiert jemand trefflich das gezierte Gebaren der Thereministen. Endlich einmal wird klar, warum Küssende so selten singen: Weil sich dann nämlich die Zungen verknoten und die Resonanzen im Gegenüber ersticken.

Wo aber bleiben die Antworten auf die großen Themen des Stückes? Wo bleibt das Jenseits? Es ist, so darf man Marton wohl verstehen, längst in und unter uns und in jedem besseren Kaufhaus zu haben.

In den Sophiensælen vom 9. bis 12. November, 20 Uhr