Im Zyklus der Gezeiten

Ebbe und Flut als Maß aller Dinge: Das gemächliche Leben auf der Halbinsel Maraú im brasilianischen Bundesstaat Bahia folgt den sich endlos wiederholenden Kreisläufen der Natur

VON OLE SCHULZ

Er hatte eine Schräglage, zur Linken abschüssig das Meer, rechts der von den anrollenden Wellen nach oben getürmte Sand. Es war kein Bolzplatz, sondern nur ein Stück Strand mit zwei selbst gezimmerten Toren. Deren windschiefe Holzpfosten waren tief in den Boden gerammt und wurden während der Flut von den Wellen umspült. Bei der Vollmond-Flut sah man gerade noch die beiden Latten aus der Schaumkrone aufragen.

Für jeden ist das Paradies etwas anderes, aber ich war mir sicher: Ich hatte meins gefunden – am Strand von Taipu de Fora auf der Halbinsel Maraú im brasilianischen Bundesstaat Bahia. Jeden Nachmittag joggte ich einen Kilometer von meiner „Pousada“ zu dem kleinen Strandfußball-Platz. War der Tiefstand der Ebbe erreicht, konnte man auf dem feuchten, harten Sand eine gute Stunde lang wunderbar mit den Fischerjungs kicken, bis es dunkel wurde.

Doch währte der paradiesische Zustand nicht lange – genau genommen vier Tage. Erst wurden die Spiele kürzer, weil die Abenddämmerung immer früher kam, dann wurden ein komplettes Tor und der eine Pfosten des anderen in einem nächtlichen Sturm fortgerissen und von den Fluten verschluckt.

Also beendete ich meine Strandfußball-Karriere vorläufig und widmete mich den Naturschönheiten der Umgebung, von denen die Halbinsel Maraú einige zu bieten hat: kleine Inseln in der Bucht von Camamu, Lagunen und Wasserfälle, Regenwald – oder die Mangroven. Der ganze Nordosten ist in Meeresnähe geprägt von Mangrovensümpfen; sie bilden ein durch die Gezeitenlage geprägtes empfindliches Ökosystem, spenden wertvolle Nahrung und bestimmen den gemächlichen Lebensrhythmus an der Küste.

Und natürlich gibt es in Maraú kilometerlange Sandstrände; zumindest in der Nebensaison sind sie fast menschenleer. Als einer der schönsten gilt der von Taipu de Fora, dem mehrere Korallenriffe vorgelagert sind. Bei Neu- und Vollmond, wenn der Wasserstand besonders niedrig ist, kann man in den „piscinas naturais“, natürlichen Meeresbecken, inmitten der Korallenriffe im türkisen Wasser plantschen.

Die nächste Ortschaft, Barra Grande, wo die meisten Gäste – überwiegend Brasilianer – von Camamu mit Booten vom Festland ankommen, liegt sieben lange Kilometer von Taipu de Fora entfernt. Wer der Ruhe Taipus überdrüssig ist – das einzige Café am Strand schließt schon um vier Uhr nachmittags –, muss sich nach Barra Grande durchschlagen. Zieht man dabei statt der kürzeren Piste durch das Landesinnere einen Strandspaziergang vor, kann man Glück haben, dass ein Motorrad-Taxi vorbeikommt. Am schönsten ist es allerdings, bei Ebbe, wenn der Sand hart ist, den Strand mit dem Fahrrad entlangzugondeln.

Die Halbinsel Maraú liegt zwar nur 390 Kilometer von Salvador de Bahia, der Hauptstadt des Bundesstaates, entfernt, doch die Reise hierher ist wie eine Reise in eine andere Welt, bei der man den hektischen Alltag in der 3-Millionen-Stadt Salvador schnell vergessen und sich in jene Zeiten zurückversetzt fühlen wird, in denen die Romane Jorge Amados spielen; tatsächlich liegt die Stadt Ilhéus, der Ort von Amados „Gabriela wie Zimt und Nelken“, nur ein Stückchen südlich von Maraú.

Was mich bei meiner Ankunft im kleinen Ort Barra Grande besonders erstaunt: Kaum einer nimmt von mir Notiz, keiner will den blonden „Gringo“ von sonst woher unbedingt kennen lernen; die Menschen in Barra Grande scheinen mit sich selbst zufrieden zu sein. Das zeitliche Maß, das hier zählt, ist der natürliche Zyklus der Gezeiten. Man muss schon selbst auf die Leute zugehen, um mit ihnen in Kontakt zu kommen.

Tarik, ein 12-Jähriger mit schulterlangem blondem Haar, ist der Einzige, der sich für mich interessiert. Jeden Tag unternimmt er etwas mit mir. Er zeigt mir auch, als ich an meinem letzten Abend in Barra Grande durch die Straßen schlendere, wo ich noch einmal Fußball spielen kann – auf einem von zwei Straßenlaternen spärlich beleuchteten Sandplatz hinter den Dünen. Nachdem ich den feuchten Strand von Taipu de Fora gewöhnt bin, fällt mir das Laufen in dem tiefen Sand schwer, meine Raucherlunge pfeift nach wenigen Minuten. Am Ende ruft mir einer der Mitspieler mit nach oben gestreckten Daumen zu: „Valeu, Gringo“, nicht schlecht, du kannst ja doch bisschen was. Ich hatte es geschafft. Viel mehr Anerkennung kann man sich als Ausländer beim Fußball in Brasilien kaum erhoffen.