Viele Wege zum Supermarkt

Mehr als nur Auswendiglernen: Der Verein „Seniorenbildung Hamburg“ bietet Gedächtnistraining an. Auch Bewegung im Freien, die richtige Ernährung und ein aktives soziales Leben halten die grauen Zellen fit. Das gilt übrigens nicht nur für Senioren

Von Mathias Becker

Kürzlich sah Agnes Landbeck eine dieser Kletterblumen mit weißer, sternförmiger Blüte. Hundertfach hat die Rentnerin sie schon gesehen in ihrem Leben. Hundertfach benannt. Doch in diesem Moment fiel ihr die Bezeichnung für das Gewächs einfach nicht ein: „Da war nichts“, sagt sie. Und dass ihr das öfter passiere.

Ein paar Wochen später sitzt Landbeck beim Gedächtnistraining in den Räumen der Seniorenbildung Hamburg e. V. im Stadtteil Altona. Acht weitere Senioren sind mit am Tisch. Jeder erzählt eine kleine Geschichte von Worten, die verschwinden, Kontoauszügen, die sich unsichtbar machen oder gelesenen Buchkapiteln, von denen nichts hängen bleibt. Ein bisschen schmunzeln sie über die eigene Vergesslichkeit. Doch die eigenen Aussetzer machen ihnen auch Angst. „Ich bin gekommen, um das da oben anzukurbeln“, sagt eine Teilnehmerin und tippt sich an die Schläfe. Humor ist eben, wenn man trotzdem lacht.

„Dabei sind Gedächtnislücken kein Problem, das nur Senioren betrifft“, weiß Kursleiterin Sabine Witting. „Stress kann auch bei jungen Leuten zu kompletten Black-Outs führen.“ Doch bei älteren Menschen komme hinzu, dass das Gedächtnis nicht mehr so regelmäßig gefordert sei. „Unser Gehirn funktioniert wie ein Muskel“, erklärt die Diplom-Psychologin. „Wenn wir es nicht trainieren, verliert es seine Kraft.“

Vor vier Jahren hat Witting sich zur Gedächtnistrainerin weiterbilden lassen. Seither kann sie sich vor Anfragen kaum retten, ihre Tätigkeit als Psychotherapeutin hat sie bis auf Weiteres aufgegeben. „Es macht mir aber auch Spaß, zu sehen wie die Teilnehmer sicherer werden, sich mehr trauen.“ Dieses Selbstvertrauen zu fördern, ist ein zentrales Ziel ihrer Arbeit. Denn häufig löse die Angst, Fehler zu machen, Blockaden im Hirn aus. „Doch Fehler macht jeder“, sagt Witting.

In den folgenden 60 Minuten setzen ihre Kursteilnehmer durcheinandergeratene Sprichworte richtig zusammen und üben sich in der Kunst der Wort-Assoziation. Sie zeichnen komplizierte Linien ab – spiegelverkehrt, mit der rechten und der linken Hand. Sie machen gymnastische Übungen, und immer wieder suchen sie nach Worten, wie bei „Stadt-Land-Fluss“. Die Stimmung in der Gruppe ist unverkrampft, denn schnell stellt sich heraus: Fehler macht jeder. Zum Abschluss spielt die Gruppe ein paar Runden „Wer wird Millionär?“

„Ich zeige meinen Kursteilnehmern, wie man den Geist wach hält“, erläutert Witting ihr Konzept. „Zentral ist dabei, dass die Leute sozial aktiv bleiben“, sagt sie. Hobbys und Gespräche füttern das Gehirn. Der Rückzug vor den Fernseher macht es müde. Doch auch die richtige Ernährung spiele eine Rolle. „Viel Wasser, Obst und Mineralien halten uns geistig fit“, so Witting. Und Bewegung ist wichtig. Einige Sitzungen hält sie in Form von Spaziergängen mit Denkaufgaben ab. Entsprechend ihrem Credo, dass geistig fit bleibe, wer auch mal die gewohnten Bahnen verlasse. Das könne gedanklich geschehen, oder indem man hin und wieder einen anderen Weg zum Supermarkt wähle. Das Motto lautet: kreativ sein.

Wenn Sabine Witting selber ein Wort vergisst, hört sie erstmal auf, darüber nachzudenken. „Das macht einen nur verrückt“, sagt sie. In einer stressfreien Minute fällt es ihr schon ein. So war es auch Agnes Landbeck gegangen. Lange nachdem sie die Suche nach dem botanischen Begriff abgebrochen hatte, kam er ihr zugeflogen: „Clematis.“

Der Verein Seniorenbildung Hamburg e. V. unterhält ein vielfältiges Bildungsprogramm in 13 Stadtteilen. Nächster Kursbeginn ist im April. Dauer: acht bis zwölf Wochen. Kosten: 50–60 Euro. Infos unter ☎ 040/391 06 36.