■ Auf ewig in der Opposition? Die Bonner SPD macht keinerlei Anstalten, wieder auf die Beine zu kommen. Die leidige Personaldebatte verdeckt aber nur das eigentliche Debakel - den Bruch mit den eigenen politischen Zielsetzungen.
: Ein Rätsel

Auf ewig in der Opposition? Die Bonner SPD macht keinerlei Anstalten, wieder auf die Beine zu kommen. Die leidige Personaldebatte verdeckt aber nur das eigentliche Debakel – den Bruch mit den eigenen politischen Zielsetzungen.

Ein Rätsel mit drei Buchstaben

Ein Tag im Leben einer großen deutschen Partei. Mittwoch, 13. September 1995. Die stellvertretende Parteivorsitzende lädt für elf Uhr in Bonn zur Pressekonferenz. Sie wird einen Bruch mit einem wichtigen politischen Ziel ankündigen, über den die Führungsgremien nie gestritten haben, den viele in der Partei auch gar nicht wollen, der auch kaum vollzogen werden wird. Wie heißt diese Partei wohl?

Im Foyer des Erich-Ollenhauer- Hauses begründet Herta Däubler- Gmelin vor Journalisten also einen unter ihrer Führung ausgearbeiteten Leitantrag für den SPD-Parteitag im November. Darin verzichtet die SPD auf ihre Forderung nach einem Einwanderungsgesetz. Den Antrag hat der Parteivorstand zwei Tage zuvor im Schnellverfahren zwar tatsächlich abgesegnet. Offensichtlich aber war den meisten SPD-Führungsleuten nicht einmal bewußt, was sie da eigentlich durchwinkten.

Die Agenturen und Hörfunknachrichten melden bald, „die“ SPD habe sich von ihrer Forderung nach einem Einwanderungsgesetz verabschiedet. Dabei wird von Stunde zu Stunde unwahrscheinlicher, daß der Mannheimer Parteitag dem Vorstoß von Herta Däubler-Gmelin folgen wird. Denn inzwischen kündigen wichtige Gruppen aus der Partei schon an, weiter für das Einwanderungsgesetz zu streiten.

Auch in der SPD-Bundestagsfraktion müssen sich viele über die Wende in der Ausländerpolitik die Augen reiben, die wie ein Signal wirkt. Aber bei der Absprache zwischen Fraktion und Partei scheint es zu hapern. Und in der SPD- Spitze ist offensichtlich niemand dafür zuständig, die Vorstöße der Partei auf einem so wichtigen Politikfeld zu koordinieren, auf dem SPD-Politiker wegen des notorisch schlechten Gewissens der Partei nach dem Asylkompromiß eigentlich sehr vorsichtig und möglichst im Konsens handeln sollten. So aber steht im November wieder eine emotionsgeladene Debatte an, die neue Gräben aufreißen wird.

Der eigentliche Streit geht um zentrale Politikziele

Die große deutsche Partei hat Glück im Unglück: Das Organisationschaos in der Sacharbeit der SPD-Führung wird an diesem Tag nicht zum großen Thema der Medien. Denen hat die alte Partei schon ganz anderes Futter geliefert. Mit dem spektakulären Rücktritt des wirtschaftspolitischen Sprechers der Fraktion, Uwe Jens, setzt sich die leidige Personaldiskussion fort. Der hatte sich an die Argumentation Gerhard Schröders gehängt und in einem Brief an seinen Parteichef kritisiert, daß eine „schlüssige Wirtschaftspolitik, die Arbeitsplätze sichert und schafft“, zur Zeit in der SPD nicht durchsetzbar sei.

„Fast schon deprimierende Auflösungserscheinungen“ machen Spitzengenossen, so der ehemalige Fraktionsvorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen, Friedhelm Farthmann (siehe Interview), am nächsten Tag aus. Natürlich wird wieder gefragt, ob sich Partei- und Fraktionschef Rudolf Scharping in seiner Stellung halten kann. Scharpings Defizite im Umgang mit Menschen sind offensichtlich. Aber die Sozialdemokraten haben zu ihm eben keine Alternative. Und der Streit um Personen verdeckt letztlich nur, daß die SPD auch über die zentralen Ziele ihrer Politik tief zerstritten ist. Drei Beispiele:

Außenpolitik: Der Widerstand gegen die Entsendung deutscher Soldaten nach Ex-Jugoslawien im Juni bedeutete eine Wende der SPD-Außenpolitik. Unklar ist, ob er sie aus Überzeugung oder aus Rücksicht auf den pazifistisch gesinnten Troikisten Oskar Lafontaine vollzog, den er im innerparteilichen Machtkampf mit Schröder nicht verprellen durfte.

Scharping an Genossen: nur nicht verzweifeln

Während die Grünen sich dem von Joschka Fischer beschriebenen Konflikt der Grundwerte stellen, drücken sich die Sozialdemokraten vor einer offenen Diskussion herum und verweigern damit eine Antwort.

Wirtschaftspolitik: In der Debatte, ob die Partei als Betriebsrat der Gesellschaft über Besitzstände wachen oder Flexibilisierung zugunsten von Wettbewerbsfähigkeit vorantreiben soll, kann Rudolf Scharping nicht klarmachen, wo er sich von Konkurrent Gerhard Schröder unterscheidet. In seiner Tuttzinger Rede vom Dezember 1994 attackierte er Parteitabus und stellte gar (wie später Schröder) die „politische Gesäßgeographie“ in Frage, also die Beurteilung von Vorschlägen nach Parteistandpunkten. Aber was gilt heute?

Sozialpolitik: Sozialdemokraten aus den Ländern und Kommunen verlangen Reformen, um die Kosten von Sozialleistungen zu begrenzen. In der Bonner Fraktion aber wacht Rudolf Dressler darüber, daß die Vorstöße erfolglos bleiben.

Das diffuse Bild ist nicht nur Ausdruck von Führungsschwäche der Spitzenleute und Folge der jahrelangen Selbstzerfleischung einer Partei in langen und frustrierenden Bonner Oppostionsjahren. Mehr als andere Parteien leidet die SPD darunter, daß ihre Wählerinnen und Wähler aus immer weiter auseinanderdriftenden kulturellen Milieus kommen und aus Gruppen mit völlig unterschiedlichen sozialen Interessen.

Parteiaktivisten klammern sich an eine letzte Gemeinsamkeit: an die Überzeugung der eigenen moralischen Überlegenheit. Im Kampf von Abhängigen und Arbeitgebern, von sozialen Verlierern und Profitnehmern des gesellschaftlichen Wandels nehmen sie Partei für die bessere Sache. Deshalb beschwor Rudolf Scharping in seinem spektakulär mißglückten Beitrag zur Haushaltsdebatte das Bild von Menschen, die Opfer einer böswillig agierenden Regierung Kohl sind. Aber diese Überzeugung wirkt nur als Kitt in der Partei und gestaltet mithin noch keine Politik.

Nach dem Rücktritt von Jens ruft Parteichef Scharping seine Parteifreunde an diesem Mittwoch auf, wegen der Irritationen nicht zu verzweifeln. Ein Tag im Leben einer großen deutschen Partei geht zu Ende. Bis zur Bundestagswahl 1998 sind noch rund elfhundert solcher Tage zu überstehen. Hans Monath