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Träge fließt das Kackwasser

■ Die Arbeiten am Sielnetz in der Hamburger Neustadt sind beendet. Die Straße Vorsetzen ist nun wieder für den Verkehr geöffnet Von Ulrike Winkelmann

Und dann haben sie die Pömpel einfach wieder weggeräumt. Glückliche Gesichter bei den Herren von der Stadtentwässerung. Die Mitarbeiter des Tiefbauamts freuen sich ebenfalls. Die reichlich vertretene Journaille boxte sich vergnügt in die Rippen: Am Vorsetzen in der Hamburger Neustadt haben freie BürgerInnen seit Donnerstag wieder freie Fahrt. Die Fahrbahn ist geräumt, der Verkehr kann fließen. Klasse.

Zweieinhalb Jahre lang blockierten die Sielbauarbeiten entlang der U3-Trasse am Baumwall die Straße: In einer sechs Meter tiefen Baugrube mußten 540 Meter Sielstrecke erneuert werden. Rund 20 Millionen Mark investierte die Stadtentwässerung, um das alte Klinkersiel durch plastikverkleidete Stahlbetonrohre zu ersetzen.

Nichts gegen die Leistung des britischen Ingenieurs William Lindley, der vor 150 Jahren das innerstädtische Stammsiel mauern ließ, meinte der Geschäftsführer der Hamburger Stadtentwässerung, Rainer Funke, anläßlich der Straßenfreigabe. „Aber sein unterirdischer Abwasserkanal war für Straßenbelastungen durch Pferdekarren konzipiert, nicht für Vierzigtonner.“

150 Jahre altes Siel jetzt so gut wie neu

Als die Stadtentwässerung Lindleys Siel dann auch zum ersten Male genauer inspizierte, mußte sie Risse, fehlende Steinreihen und Deformationen am Scheitel feststellen. Die brisante Diagnose: akute Einsturzgefahr. Deshalb mußte die Straße 1993 ganz fix verkehrsberuhigt werden. Als alle Appelle nichts fruchteten, wurden Betonklötze so aufgestellt, daß selbst die eigentlich unbelehrbaren Autofahrer langsamer fuhren. „Die Hamburger haben es akzeptiert“, lobte Funke. Sie gehorchten aus Sorge um ihre Blechkisten: Je breiter der Wagen, umso größer war die Gefahr, sich einen Kratzer am Lack zu holen.

Verglichen mit den Anstrengungen für eine modernere Abwasser-entsorgung eine Lappalie. Über 485 Kubikmeter Holz wurden aus dem Boden geholt: Fundamente ehemaliger Kaianlagen, Baugrubenwände des Lindleyschen Siels und alte Uferbefestigungen (althamburgisch: „Vorsetzen“). Damit das empfindliche Hochbahnviadukt entlang der Straße nicht erschüttert wurde, mußte sogar ein spezielles Bohrverfahren angewendet werden. Das habe man gut hinbekommen, klopfte der oberste Entwässerer seinen Untergebenen kräftig auf die Schultern, um anschließend die Vertreter der Öffentlichkeit aufzufordern, sich direkt von der Güte des Geleisteten zu überzeugen.

Um authentische Siel-Impressionen mit nach Hause nehmen zu können, muß sich die Presse in Schutzanzüge stecken lassen. Mit dem Schlauchboot geht es ein altes Klinkersiel hoch und runter. Sumpfig-schwefeliger Muff bei hundert Prozent Luftfeuchtigkeit schlägt den tapferen JournalistInnen entgegen, leise ploppend zerplatzen Blasen an der Oberfläche des träge fließenden Kackwassers.

Der Schlauchboot-Kapitän erzählt von Ratten, so groß wie junge Katzen. Von der Decke tropft Kondenswasser. Extra aufgebaute Scheinwerfer zerschneiden den weichen Kanalisations-Nebel, und wir dürfen einen Blick durch ein Verbindungsrohr in eines der neuen Siele werfen. Nicht, daß man etwas sähe, aber die Atmosphäre ist wirklich atemberaubend. Das entschädigt auch für die triumphierende Straßenfreigabe – jedenfalls für den Augenblick.

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