■ Franzosen und Deutsche angesichts des großen Streikfests
: Faszination und Angst – wechselseitig

Die Woge der Streiks in Frankreich gibt Deutschen wie Franzosen ein weiteres Mal Gelegenheit, sich jenem Spiel wechselseitiger Anziehung und Abstoßung hinzugeben, das ihre immer zweideutigen Beziehungen prägt.

Zuerst das Anziehende: Mehr als eine Million Menschen strömen auf die Straßen, und das mehrfach in der Woche. In Paris, in Nantes, Lyon, Le Mans. Die vereint vom Streik Betroffenen überbieten sich gegenseitig an Rafinesse, um doch noch zur Arbeit zu kommen. Und das bei guter Laune: „Welch ein Vergnügen, Paris zu Fuß zu durchqueren“, schwärmte einer meiner Freunde, der eine Stunde früher aufgestanden ist, um auf einer sorgfältig ausgewählten Route zum Büro Pariser Panoramen zu genießen. Einer meiner Kollegen, Vater von vier Kindern, hat im Salon ein Notlager für die Babysitterin aufgeschlagen. „Es ist ein bißchen eng“, sagt er, „aber die Kinder genießen es.“

Die Franzosen ertragen den Streik ohne allzuviel Nörgelei. Umfragen zeigen, daß die Mehrheit die Streikbewegung unterstützt. Die Streikenden haben sich während dreier langer Wochen gut gehalten. Und dies, obwohl die französischen Gewerkschafter – im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen – über keine Kriegskasse verfügen, also keinerlei Unterstützung bezahlen können. Wer von uns, so fragen sich Deutsche, die von der Opferbereitschaft ihrer französischen Kollegen überrascht sind, wäre schon einverstanden, praktisch 100 Prozent seines Lohns für eine Revolte gegen die Regierung dranzugeben? Und wer hätte die Nerven, über Wochen hinweg die Unannehmlichkeiten des Streiks zu ertragen, das Chaos, die Staus, die Verspätungen? Im Vergleich zu diesen Streiks waren die deutschen Veranstaltungen gleichen Namens eine ziemlich laue Affäre. Niemals habe ich in Deutschland bei Streiks diese Volksfeststimmung gefunden, diese Mixtur aus Ausgelassenheit und Wutausbrüchen, die die „manifs“ in Frankreich auszeichnet. Streiks in Deutschland jagen ein paar Tage lang den Unternehmern wie den Arbeitern einen prickelnden Schauder über den Rücken. Die Deutschen streiken, wie sie arbeiten: ordentlich, pünktlich, diszipliniert. Ist, nach einer demokratischen Urabstimmung, das Losungswort „Streik!“ gesprochen, so erscheinen die Streikenden pünktlich zur Picket-Line. Sie leisten willig ihre acht Streikstunden ab, werden ernährt und ziemlich fett bezahlt. Rasch werden die Verhandlungen mit der Unternehmerseite aufgenommen. Und nach ein paar Tagen ist die Sache geregelt. Deutschland funktioniert. Kein Wunder, daß die so vernünftigen Deutschen mit einer Spur von Neid auf die französischen Kämpfer hinüberschauen.

Eine Bewunderung, die die Franzosen zurückgeben. Denn bei aller Kampfeslust träumen auch sie davon, ihre sozialen Konflikte im gegenseitigem Verständnis meistern zu können. Das „deutsche Modell“, eine mythische Konstruktion, von der niemand so genau weiß, was sich dahinter verbirgt, wird von den ideenarmen französischen Politikern ohne Unterlaß in den Mund genommen. Hintereinander werden uns die Reform des deutschen Sozialversicherungssystems, das System der Berufsausbildung, die Disziplin und der Zusammenhalt der deutschen Gewerkschaften als Beispiel vorgehalten. Man schwärmt uns vor, daß das vereinte Deutschland, obwohl damit beschäftigt, die DDR zu verdauen, all das soziale Chaos und den Quasi-Bürgerkrieg vermieden hat, der im Vergleichsfall sicher über Frankreich hereingebrochen wäre. Kurzum, man beneidet die Deutschen wegen ihres Sinns für den Dialog wie den Kompromiß. Man stelle sich nur mal vor, die deutsche Regierung würde ohne jede vorhergehende Verhandlungen über Nacht drastische soziale Sparmaßnahmen bekanntgeben, also exakt so verfahren, wie das Tandem Chirac/Juppé! Ihr Reformprogramm der schweren Schläge spiegelt das französische politische System wider: konservativ, anachronistisch, ohne Vision. Auch der heftigen Antwort der Gewerkschaften mangelt es an Einbildungskraft: Verteidigung des Status quo um jeden Preis ohne einen Gedanken an kreative Ersatzlösungen.

Aber täuschen wir uns nicht. Der Lorbeer, mit dem die Deutschen den zivilen Mut und die Schlagkraft der Franzosen bekränzen; der Weihrauch, den die Franzosen den Deutschen wegen der gutgeölten Maschine der demokratischen sozialen Beziehungen streuen – diese wechselseitige Faszination kann leicht in Verachtung umschlagen. „Frankreich am Rande des Bürgerkriegs!“, „Chaos in Frankreich“!“ – so überschlagen sich die Titel der deutschen Presse, die beunruhigt und auf vage Weise herablassend auf dieses französische Tollhaus reagiert. Die Deutschen fürchten, daß Frankreich das Kriterium für die Währungsunion verfehlt und Deutschland mitten auf der Fahrt allein im Regen stehen läßt. Ihrerseits könnten sich die Deutschen, erschöpft von ständiger Furcht vor den Schatten ihrer Vergangenheit, den schwärzesten Prophetien ausliefern: als einziger ökonomische Gigant in einem schwachen Europa wieder arrogant zu werden, herrschsüchtig, gefährlich. Eine Phantasmagorie, die die Franzosen zu nähren versucht sein könnten. Denn sie bewundern nicht nur, sie neiden den Deutschen auch ihren ökonomischen Erfolg, und sie fürchten, von den Entscheidungen der allmächtigen deutschen „BuBa“, der Bundesbank, abhängig zu werden. Sollte man nicht auch ein wenig Furcht vor diesem bewunderswert funktionierenden Deutschland haben, murmelt es in Paris. Und sollte man dieses sympathische Frankreich wirklich ernst nehmen, murmelt es paternalistisch auf der östlichen Seite des Rheins zurück.

Eine Frage, der man sich stellen muß. Welche traurige Realität wird von der romantischen Konfrontation verdeckt, von den Funken des revolutionären Anarchismus, der die Deutschen so sehr verführt? Was zeigen denn die drei Wochen der sozialen Krise in Frankreich? Eine Realität der sozialen Beziehungen und einen Zustand der französischen Gesellschaft, der alles andere als glänzend ist. Eine hyperautoritäre Regierung, die Maßnahmen durchsetzt, ohne irgend jemand zu fragen. Ein Land, in dem der Schlag in die Fresse und der Streik die einzigen Ausdrucksmittel sind, weil keine politische Struktur für den Dialog und für gemeinsame Aktion existiert. Schwache, zersplitterte, sich in Konkurrenzkämpfen verschleißende Gewerkschaften, die am überkommenen Prinzip des Klassenkampfs hängen – und die nur eine schwache Minderheit der Erwerbsbevölkerung organisieren. Die Deutschen können sich beruhigen. Dem allzu braven, allzu emsigen „Modell Deutschland“ mag der stolze Glanz fehlen. Aber unterm Strich ist es wirksamer – und gesünder. Pascale Hugues