■ Frankreich nach Mitterrand: Es schwelgt in Nostalgie für die großen, unerreichbaren historischen Gestalten
: Von allen geliebt

Große Ereignisse verbindet jeder automatisch mit der genauen Erinnerung daran, was er in genau dem Augenblick getan hat, als er von der Neuigkeit erfuhr. Es ist wie eine Art Standbild, das ein Kapitel großer Geschichte auf eine ungewöhnliche und völlig unproportionale Art und Weise mit einem Moment im Tagesablauf jedes einzelnen verbindet.

Der Tod von de Gaulle bleibt in meiner Erinnerung immer unmittelbar mit einem Diktat verbunden, für das ich eine sehr schlechte Note bekam. Es war 1970, ich ging noch aufs collège, war nicht sehr gut in Rechtschreibung, und dem französischen Bildungsminister war nichts Besseres eingefallen, um diesem Ereignis Tribut zu zollen, als die Schüler aller französischen Schulen einen Text aus den „Mémoires“ als Diktat schreiben zu lassen. Vielleicht behalten die kleinen Franzosen von heute den Tod von Präsident Mitterrand weniger traumatisch in Erinnerung. Premierminister Alain Juppé hat nur folgsam einen nationalen Trauertag angeordnet.

Die Wahl von François Mitterrand ruft sofort die Erinnerung an eine riesengroße Schale mit Grießpudding hervor. An diesem 10. Mai 1981, ich studierte gerade in England, erfuhr ich die Neuigkeit zur Teezeit. Ich klebte förmlich am Radio, und das in einer kleinen Universitätsstadt, die die englische Tradition und ihr Insulanerdasein pflegte und sich nicht die Bohne um das kümmerte, was den Nachbarn von „oversea“ passierte. Ich verließ meinen Pudding, um zu einer Telefonzelle zu rennen. Am anderen Ende der Leitung ein Lärmen und Getöse von Hupen, Schreien und Hurras. Meine Familie, die schon seit Jahren auf die Machtergreifung der Linken gewartet hatte, hielt den Hörer mit ausgestrecktem Arm auf die Straße... „Damit dir bewußt wird, was hier passiert!“ Ein Jahr später sollte ich dann beim Aufnahmetest an der Journalistenschule durchfallen, weil ich ein r im Namen von Mitterrand vergessen hatte. Das Diktat von de Gaulle hatte seine Spuren hinterlassen!

Wir haben die ersten Jahre Mitterrands mit so viel Hoffnung erlebt. Die Abschaffung der Todesstrafe, die endlich beginnende Dezentralisierung in einem von Paris geblendeten jakobinischen Frankreich, die privaten Radios, die Aufstockung des Kulturbudgets, die großen Architekturarbeiten voller Kühnheit und Pracht, die Paris veränderten. Um den Präsidenten scharten sich auf einmal Linke, brillante Intellektuelle, Schriftsteller aus der ganzen Welt. Ich habe mich immer gefragt, als ich als Korrespondentin die Höhepunkte der deutsch-französischen Beziehungen erlebte, wie an diesen Abenden mit Saumagen und Knödel in Oggersheim die Konversation zwischen dem kleinen und raffinierten François Mitterrand, Liebhaber der schönen Literatur, und dem titanischen Helmut Kohl, dem pragmatischen Tolpatsch, überhaupt funktionieren konnte. Dieses ungleiche Paar hat nichtsdestotrotz die europäische Union zum Taufbecken getragen. Zu Beginn der ersten siebenjährigen Amtszeit schien Frankreich sich endlich zu bewegen, aufzuatmen, sich zu erneuern, zu wagen. Einige Monate nach seiner Wahl war François Mitterrand der am meisten geliebte Präsident der Fünften Republik.

Sieben Jahre später, im Mai 1988, wollte ich nicht fehlen. Und ich verließ mein Exil, immer noch England. Zur Wiederwahl von „tonton“, dem Onkelchen, wollte ich zu den Klängen der malischen Gruppe „Touré Kounda“ auf der Place de la Republique tanzen. Und es gab immer noch rote Rosen und die Hupkonzerte. Aber das Herz, war es immer noch dabei? Schritt für Schritt ist der Enthusiasmus in den langen Mitterrandschen Jahren abgestumpft. Der Fortschritt bei den „civil rights“ und im Kultursektor, den beiden Lieblingsbereichen der Linken, waren die nicht das mindeste?

Zwischen den enttäuschten Hoffnungen, den politischen und finanziellen Skandalen, durch die mehrere Figuren am Bug der Sozialistischen Partei naß wurden, und diesem alten Monsieur, gelb wie eine Quitte, hochnäsig und distanziert, der Frankreich seit 14 Jahren wie ein Monarch dirigierte und der sich plötzlich von seiner Vichyer Vergangenheit eingeholt sah – dazwischen machte sich Desillusion breit. Und es gibt wahrlich keinen Grund, vor Freude aus dem Häuschen zu sein angesichts der tristen Bilanz, die diese Jahre hinter sich lassen: mehr als drei Millionen Arbeitslose, ein Land, das geteilt ist durch den Graben zwischen Reich und Arm, eine ruinierte Sozialistische Partei ohne Führer. Mitterrand war eine sehr strittige Person, sogar von einigen gehaßt. Die Ära Mitterrand hinterläßt gemischte Gefühle.

Von seinem Tod habe ich hier erfahren, in Berlin, erneut weit weg von Frankreich. Und als ich mir im Radio das einstimmige Konzert mit Lobreden von Politikern aller Nationen und jeglicher politischen Couleur anhörte, habe ich mich gefragt: Warum diese Vergötterung? Seit Montag ist ganz Frankreich von Trauer paralysiert. Die Medien widmen sich einer Orgie von Erinnerungssendungen und einem Debattenfluß, der den Tod des Präsidenten beweihräuchert. Instabil und in einer tiefen Krise, entdeckt Frankreich plötzlich seinen weisen Mann, eine von der Vorsehung gesandte Integrationsfigur, einen Vater. Und soviel Einhelligkeit beunruhigt mich ein bißchen. Im November, zum Todestag von de Gaulle, widmeten sich die Franzosen voller Harmlosigkeit demselben Personenkult. Frankreich schwelgt in Nostalgie für die großen, unerreichbaren Gestalten. Die Verfassung der Fünften Republik, die dem Präsidenten eine immense Macht einräumt, öffnet solchen Exzessen die Tür. In dieser Zeit der Unordnung vermissen die Franzosen die verkörperte Kontinuität von Mitterrand während seiner zwei Amtszeiten. Im Gegensatz zu Chirac, der sichtlich schwimmt und jeden Moment den politischen Kurs wechselt, hat Mitterrand wenigstens eine bestimmte Konstanz ausgestrahlt.

Der Tod von Mitterrand hat mich ein wenig an den Tod Willy Brandts erinnert. Deutschland ging es schlecht zu dieser Zeit. Es hieß damals, daß Willy Brandts Leben genau in dem Moment zu Ende ging, als Deutschland Politiker wie ihn am meisten brauchte. Heute geht es Frankreich schlecht. Nach der Streikwelle im Dezember verschwindet ein Politiker, der eine historische Vision hatte. Jeder Franzose kann sich mit einem Kapitel seines Lebens identifizieren. Mit François Mitterrand verschwindet eine Generation und ein bestimmter Politikerstil: würdevoll, humanistisch, raffiniert. Und die Franzosen sind sich darüber sehr wohl im klaren.