Die 193 Tage der „Auslieferbaren“

■ ..

Der neue Garcia Márquez ist eine Reportage – über die Entführung von Journalisten durch den Drogenboß Escobar

Ungeheuerlich. Das ist eigentlich Stoff für ein ganzes Buch“, sagte Maruja Pachón in jener Nacht, am Ende ihres 193tägigen Leidensweges in den Händen ihrer Entführer. Gabriel Garcia Márquez, der Großmeister des magischen Realismus und Gründer einer ganzen Literaturgattung in Lateinamerika, hörte den Wunsch seiner Freundin – und machte sich ans Werk. Was dabei herauskam: „Noticia de un secuestro“ (Notiz einer Entführung), der jüngste Márquez.

Um aufzuschreiben, was der Direktorin der Filmgesellschaft Focine widerfuhr, hat der kolumbianische Literaturnobelpreisträger sein Metier verlassen und geht zurück zu seinen schreiberischen Wurzeln, dem Zeitungsjournalismus.

Und er kann es noch. Vier Jahre Recherche waren nötig, um genau nachzuerzählen, was in jenen sechs Monaten geschah. Die Geschichte ist schnell zusammengefaßt: Im Spätherbst 1990 werden mitten in Bogotá zehn bekannte Journalisten entführt. Eines der grausamsten Kapitel des Krieges zwischen dem Medellin-Kartell des legendären Pablo Escobar und der staatlichen Gewalt beginnt – „eine Episode des biblischen Holocausts, der Kolumbien seit mehr als zwanzig Jahren langsam verschlingt“.

Geiseln gegen persönliche Sicherheit

In den sechs Monaten der Entführungen pokern die Männer um Pablo Escobar mit dem Leben ihrer prominenten Opfer – alles bekannte Journalisten, die meisten aus einflußreichen, in allerhöchste politische Kreise verwobenen Familien. Unter dem Namen „Die Auslieferbaren“ operieren die Drogenkapos kalt und zielstrebig. Ihr Ziel: eine Abschiebung in die USA mit anschließendem Verfahren und Haft zu verhindern.

In langen Verhandlungen, bei denen sie auch vor Ultimaten mit folgenden Geiselerschießungen nicht zurückschrecken, erreichen sie schließlich, was sie wollen. Pablo Escobar und seine engsten Vertrauten stellen sich den Behörden und lassen die letzten Entführten frei. Die Gegenleistung von staatlicher Seite: persönlicher Schutz und äußerste Sicherheit. Pablo Escobar wird in ein eigens für ihn errichtetes Gefängnis verbracht. Der Drogenterrorismus ist vorüber. Kolumbien atmet auf.

Bis zur spektakulären Flucht des Mafiabosses zehn Monate später. Abermals versucht Escobar die Regierung zu erpressen. Doch auch eine Serie von Bombenanschlägen bleibt diesmal erfolglos. „Am 2. Dezember 1993 – einen Tag nach seinem 44. Geburtstag – umzingelten 23 Zivilpolizisten die Zone, stürmten das Haus, brachen die Tür auf.“ Der Rest ist aus Fernsehbildern bekannt, die um die Welt gingen.

Gabriel Garcia Márquez fühlt sich ein in die tägliche Angst und Beklommenheit, die eine monatelange Gefangenschaft mit mehr als unsicherem Ausgang mit sich bringt. Er schildert Menschen, die zwischen Kalkül und lebensgefährlichen Wutanfällen gegen ihre Peiniger schwanken – bis hin zur Zuneigung zu einzelnen Bewachern: die bei Entführten oft auftretende unterschwellige Identifizierung mit den Tätern.

Er untersucht die Widersprüche zwischen staatlichen Sicherheitskräften und den Familien der Opfer: Während die einen gerne militärisch zuschlagen würden – und dies in einem Falle auch tun –, haben die anderen ganz entgegengesetzte Interessen, kann doch jeder bewaffnete Befreiungsversuch den Tod der Entführten bedeuten. So kämpft der bekannte Journalist und Ehemann von Maruja Pachón, Alberto Villamizar, an zwei Fronten. Zum einen ringt er Pablo Escobar in langwierigen verhandlungstaktischen Winkelzügen kleine, aber bedeutende Zugeständnisse ab; zum anderen verlangt seine Rolle als Vermittler geschicktes Umgehen mit Präsident César Gaviria. Szenen, mit deren Beschreibung Garcia Márquez gerade dem ausländischen Leser einen tiefen Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Strukturen Kolumbiens bietet.

Kein Platz für den „Volkshelden“

Bei so viel reporterischem Geschick bleibt nur ein Leserwunsch unerfüllt: der nach einer genaueren Analyse des sozialen Phänomens Pablo Escobar. Auch wenn Garcia Márquez die Popularität des Kartellchefs in seiner Stadt Medellin einige Male kurz erwähnt, wäre eine tiefergehende Untersuchung wünschenswert gewesen.

Don Pablo, wie die arme Bevölkerung Kolumbiens den zum Volkshelden hochstilisierten Bandenchef gerne nennt, der den korrupten Politikern in der Hauptstadt Bogotá die Stirn bietet, die Sicherheitskräfte vorführt, obwohl sie mit Mitteln des schmutzigen Krieges versuchen, die Hauptstadt des Kokains zu drangsalieren; oder der Don Pablo, der einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung in und um Medellin zu Brot und Arbeit verhalf, ist die Kehrseite des organisierten Verbrechertums à la Escobar, die im Buch kaum Platz findet. Hier schaut Garcia Márquez nicht mit dem ihm sonst so eigenen Wissensdurst hin, er wendet sich geradezu ab. Sein Ziel ist ein anderes: „Daß dieses furchtbare Drama nie in Vergessenheit gerät.“

Das hat er sicher erreicht. Gabriel Garcia Márquez setzt den Opfern ein Denkmal. Eine gelungene Reportage, die die Grenze zwischen Journalismus und Romanschriftstellerei aufhebt. Trotzdem möchte sich der lateinamerikanische Altmeister nach „Noticia de un secuestro“ nicht wieder so schnell in etwas Ähnliches stürzen. „Denn es ist leichter, gut zu erfinden, als ganz genau hinzuschauen und zu beschreiben.“ Rainer Wandler

Die deutsche Ausgabe von „Notiz einer Entführung“ erscheint im September bei Kiepenheuer & Witsch