Mittags kommen die Vögel

Auf dem Kunstschiff Anna vermischen sich Ausdruckstanz, jiddische Folklore und literarische Texte zum progressiven Universalgesamtkunstwerk. Auch ein paar Lastkähne schauen zu  ■ Von Fritz von Klinggräff

„Mitten in Berlin an der Fischerinsel liegt das Kunstschiff Anna vor Anker (...) In der malerischen Atmosphäre des Historischen Hafens von Berlin und dem Zugang durch den Park der Fischerinsel wurde es im Sommer 1995 als neuer Veranstaltungsort für experimentelle Kunst geweiht und vom Publikum mit großem Zuspruch angenommen.“

Zum Weglaufen? Mal gucken. Ein gigantischer Kindergarten liegt auf der Südspitze der Fischerinsel. Über seinen Fensterflächen turnt eine böse Schwiegermutter mit rotem Apfel durch sieben Berge zu den sieben Zwergen. Das ist malerisch. Der Park auf der anderen Seite des Kindergeheges quetscht sich als ein Stück Pißwiese ins Spreeufer – wer wollte es den Hunden nicht gönnen. Schnell streichen Leute vorbei und verschwinden in den zwanzig Stockwerken der „Fischerinsel Nr. 2“.

Den Damm runter zum Wasser stehen Bänke wunderlich bemoost, ein Pärchen ist aufgestanden und beugt sich über den Zaun zum Wasser wie zum gemeinsamen Kotzen über die Reling. Ein paar Lastkähne schauen zu. Der größte heißt Anna. Statt Wellbleche stehen Dachlatten im Giebel über dem Laderaum – dazwischen Zwischenraum zum Durchschaun. „Guck ma, da baut sich eena sein Luftschloß“, quakt eine Passantin. Ich seh' nur rostiges Eisen und unter roter Farbe notdürftig versteckt den Namen des einstigen Schiffseigners: F. Moerder.

Aber die alte Frau hat recht. Wo einst auf dem Schiff sich Kohlen häuften, ist nun ein Raum von 200 qm Fläche und drei Meter Höhe – halb Luftschloß, halb Blechsarg mit blankgescheuerten Eichenbohlenparkett. Das ist Anna, das Kunstschiff. Mit Sommerprogramm an jedem Wochenende. Morgen, am Donnerstag, tobt hier eine Fete, schon flattern die Fahnen der sechs Fotokünstlerinnen aus Prenzlauer Berg durch die luftige Halle. Fotofahnen von Verena Franke, Michaela Göltl, Pea Lehmann, Silke Helmerdig, Anke Lehmann und Julia Altenbernd spielen im Wind mit Geschichten von Piratinnen und folienblauen Aquarien. Am Samstag singt dann Ilka Vierkant französisch und jiddisch ohne Klezmerbegleitung. Am Sonntag zur Matinée liest Sabine Techel ihre Erzählung „Wasser, die Luft“: „Voll Wasser pumpen, schütteln und dann hoch die Füße und wieder auslaufen, eine ganze Reihe Kinder auf der Leine, wie das im Wind schwänge.“

Vom Alex blinkt der Leuchtturm, und Magdalena Esponda kommt, Herzstück der kopflosen „Freien Gruppe Körperausdruck“, die vor zwei Jahren „die Anna“ in Pacht nahm. Als Probenraum, Veranstaltungsraum und Gesamtkunstwerk. Ein bißchen verwirrt ist sie, daß mich die Lesung am meisten interessiert, und überspielt das mit vitaler Freundlichkeit: „Die Anna ist ein Ort für unsere Freundinnen, die mit uns experimentieren. Wir nennen unsere Aktivität ,Experimentaktion‘. Die Matinées mit den Lesungen gehören nicht in dieses Programm. Aber ich finde das trotzdem gut. Mittags kommen die Vögel. Ich wollte auch diese Atmosphäre.“

Das zehnköpfige Tanzensemble, das sich in den vergangenen vier Jahren um die argentinische Ausdruckstänzerin versammelt hat – Eltern von Kinder, die bei Frau Esponda Unterricht in „Körperausdruck“ erhalten hatten – hat kaum weniger als ein progressives Universalkunstwerk vor Augen: „Körperausdruck ist Realität. Unsere Augen können tanzen, unser Mund kann tanzen, unsere Zunge kann tanzen, unser Hals, Kopf, unsere Hände. Körperausdruck integriert unsere innere Musik mit unseren Bewegungen, den Klang unseres Körpers mit Mimik.“ Wenn dazu noch das Schiffshorn von der Schleuse her tönt, und sich mit dem Meckern der Nachbarn mischt, klingt das einigermaßen esoterisch. Und ist auch so gemeint.

Unter den Bohlen steht das Regenwasser und sorgt für die richtige Akustik. Frau Esponda hofft, daß es nicht steigt, sonst fault ihnen der Boden unter den Füßen weg. Für dieses Jahr hat die Gruppe eine romantische Revolution auf dem Programm, die sie in den Sommermonaten vor das Publikum bringt: Soloauftritte der einzelnen Gruppenmitglieder mit dem Ziel einer Gruppenidentität auf höherer Ebene.

Das übrige Veranstaltungsprogramm ist eher locker um diesen therapeutischen Prozeß einer Gruppe verteilt, die vielleicht einfach mit titanischem Elan gegen ihren Zerfall kämpft. Und wenn schon. Noch streicht die Trauerweide sanft über das dünne Gebälk der Anna, und über den Dächern der Stadt spreizt die Nikolaikirche ihre zwei dürren Finger zum Victory-Zeichen.

Nächste Termine: Heute, 18–22 Uhr: Fotofahnen, 13./14. 7., 20 Uhr: Ilka Vierkant, jiddische Musik und Chansons; 14. 7., 11.30 Uhr: „Das Wasser, die Luft“ – Lesung mit Sabine Techel; 19.–21. 7., 20 Uhr: „Die Verwandlung“, ein getanztes Märchen mit Masken und Live-Musik, Kunstschiff Anna an der Südküste der Fischerinsel