■ Das Massaker an den bosnischen Muslimen in Srebrenica hätte verhindert werden können. Aber niemand wollte das
: Mitschuld des Westens

Die Tragödie von Srebrenica markiert einen Wendepunkt im bosnischen Krieg. Seither wurde von seiten der internationalen Gemeinschaft mehr Willen gezeigt, den Krieg zu beenden und eine politische Lösung für Bosnien-Herzegowina zu finden. Die besondere Tragik von Srebrenica war: Dieser Massenmord hätte vermieden werden können. Deshalb wird sich weiter die Frage der Schuld stellen. Die Verantwortlichkeit liegt nicht allein auf serbischer Seite.

Daß General Ratko Mladić oder der Psychopath Radovan Karadžić unberechenbare Gesellen sind, war schon vor den Ereignissen in Srebrenica allen bewußt. Daß die absurde serbische Soldateska muslimische Frauen und Männer ermorden würde, entsprach ihrer Theorie und Praxis schon seit 1992. Daß es bei einem Bevölkerungsaustausch zu Übergriffen kommen könnte, hätte man von internationaler Seite aus einkalkulieren müssen. Und zwar schon im Vorfeld, noch während über den Bevölkerungs- und Gebietsaustausch verhandelt wurde. Und daß über Srebrenica, Zepa und auch Goražde seit Frühjahr 1995 verhandelt wurde, kann niemand mehr leugnen, auch wenn die UNO, die europäischen Regierungen, die USA und die bosnische Regierung darüber weiter schweigen.

Das hat auch damit zu tun, daß weder die UNO noch die anderen internationalen Institutionen über den Gebiets- und Bevölkerungsaustausch reden durften. Die Vereinten Nationen waren im Gegenteil dazu verpflichtet, den ethnischen Säuberungen entgegenzutreten. In Wirklichkeit jedoch war es die Politik des damaligen höchsten Repräsentanten der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien, Yasushi Akashi, das „Problem der bosnisch-muslimischen Enklaven“ zu lösen. Ein erster Schritt dazu war die Demilitarisierung, das heißt die Entwaffnung der Verteidiger von Srebrenica und Zepa schon im Frühsommer 1993. Die gleichzeitig zu UNO- Schutzzonen erklärten Enklaven wurden in der Folgezeit jedoch im Stich gelassen. Übergriffe und Überfälle der Belagerer wurden in der Regel nicht geahndet. Lediglich der Angriff auf die UNO- Truppen selbst sollte sanktioniert werden. Nicht einmal dies geschah. Und das war kein Zufall. Indem die UNO-Emissäre seit 1994 begannen, auf die bosnische Regierung Druck auszuüben, um Goražde und Bihac zu entwaffnen, zeichnete sich schon die Strategie für die „Lösung des Konflikts“ ab: Die Enklaven sollten Karadžić und Mladić überlassen werden. Im Gegenzug sollte das Gebiet um Sarajevo zur bosnischen Seite geschlagen werden. Die Teilung Bosnien-Herzegowinas wurde von der UNO im Hintergrund aktiv betrieben. Und es wurde sogar die Bildung eines zweiten serbischen Staates unterstützt, der die serbisch besetzten Gebiete Bosniens und der serbisch besetzten Gebiete Kroatiens umfassen sollte.

Die Tragödie von Srebrenica hat auch die Moral und das Selbstverständis der UNO erschüttert. Die in der Konsequenz einseitig proserbische Politik der UNO mußte nach dem Massenmord und dem Druck der Öffentlichkeiten in den USA und in Europa korrigiert werden. Die kroatische und die bosnische Armee erhielten grünes Licht für eine Gegenoffensive. Daß Bihać befreit wurde und die Nato Goražde zu ihrer Schutzzone erklärte, kaschierte jedoch lediglich die Verantwortlichkeiten für die Katastrophe von Srebrenica in Washington, Paris und London. Denn ohne die Rückendeckung aus diesen Hauptstädten hätte Akashi gar nicht agieren können. Die Teilung Bosnien- Herzegowinas war auch von Clinton, Mitterrand und Major angestrebt.

Die internationale Gemeinschaft setzte auch die bosnische Regierung unter Druck, dem Bevölkerungsaustausch zuzustimmen. Dieser Druck kam den nationalistisch-extremistischen Kräften in der muslimischen Führung sogar entgegen. Von militärischer Seite wurde immer wieder eingebracht, die ostbosnischen Enklaven bänden die Hände für Gegenoffensiven an anderer Stelle. Und einige Politiker der muslimischen Nationalpartei SDA sahen schon damals ihre Zukunft besser in einem bosnisch-muslimischen Kleinstaat aufgehoben als in der „Fiktion eines ungeteilten Bosnien-Herzegowinas“. Daß die Kommandeure der seit 1994 langsam wieder aufgebauten bosnischen Armee in Srebrenica vier Wochen vor dem serbischen Überfall abgezogen wurden, ist ein Hinweis für das Einverständnis des Oberkommandierenden. Und das ist Alija Izetbegović, der bosnische Präsident.

Es haben also viele Seiten ein Interesse, von den Ursachen und dem Ablauf der Tragödie von Srebrenica abzulenken. Alle möchten die Spuren verwischen, die beweisen könnten, daß sie an einer fatalen ethnischen Säuberung beteiligt waren.

Und das wäre bei folgendem, der Wirklichkeit nahe kommenden Szenario gegeben: Sowohl die UNO wie die genannten Mächte verhandelten mit Belgrad und Pale über einen Gebietsaustausch der ostbosnischen Enklaven gegen das Gebiet um Sarajevo, das von der serbisch-bosnsichen Armee zum Belagerungsring ausgebaut war. Die Bevölkerung Srebrenicas und Zepas sollte durch den serbischen Vormarsch gezwungen werden, einer Evakuierung ins bosnische Gebiet um Tuzla zuzustimmen. Die UNO-Truppen und die Serben sollten gemeinsam die Evakuierung – als lebensrettende Maßnahme kaschiert – organisieren.

Deshalb erhielt die serbische Seite schon drei Tage vor der serbischen Offensive auf Srebrenica Benzin für Autobusse, die den Abtransport durchführen sollten. Mehr als 25.000 Frauen und Kinder wurden tatsächlich nach Tuzla gebracht. An den Männern jedoch entzündete sich die Rache der serbischen Seite. Daß der Marsch der 15.000 Männer zum Todesmarsch wurde, war nicht eingeplant. Es hätte jedoch erkannt werden müssen, daß Mladić und seine Mannen der Versuchung nicht widerstehen konnten, wie blutrünstige Tschetniks zu handeln.

Zuerst zogen die USA Konsequenzen. Zu spät für die Opfer. Und zu spät für die internationale Gemeinschaft. Sie ist mitschuldig am Tod von wahrscheinlich 8.000 Menschen. Erich Rathfelder