Die Seele fehlt dem Kiez

Der Prenzlauer Berg wird zum Berliner Schwabing, die Anwohner wünschen ein Kneipensterben herbei  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Eine einzige Schlüsselumdrehung versöhnt Birgit Moldenhauer mit der Welt. Mit klopfendem Herzen betritt sie seit zehn Jahren jeden Morgen die Kinderbibliothek am Kollwitzplatz und ergötzt sich an den handgefertigten Holzregalen. Sie läßt den Blick schweifen über die Schmökerecke mit den Stofftieren und murmelt vor Freude: „So eine schöne Bibliothek!“ Sie ist ihr zweites Zuhause, ihre „Familie“. Birgit Moldenhauer ist nicht gegen das Neue an sich. Die Wende hat der Bibliothek schließlich viele kostbare Bücher beschert. Birgit Moldenhauer geht mit der Zeit. Nur ist die Zeit schneller als sie, die Bücher-Mutter vom Prenzlauer Berg.

Der Seniorentreffpunkt wich einem Edel-Italiener, die Post einem chilenischen Restaurant. Der Schuster und der Tabakladen, das Friseurmuseum und die Druckerei in den Nebenstraßen verkrafteten den Kundenmangel nicht. Ausgerechnet ihre Bibliothek, die doch für „Kontinuität“ sorgt, ereilt nun das gleiche Schicksal. Der Mietvertrag läuft Ende Dezember aus – der doppelte Quadratmeterpreis von 36 Mark ist dem Bezirksamt zu kostspielig. Fernab vom Kollwitzplatz wird die Bibliothek dann wiedereröffnet. Moldenhauer könnte heulen: „Ob sie je wieder so schön wird wie jetzt?“

Daß Kultureinrichtungen keinen Schutz genießen vor Kneipenwildwuchs, das mußte Birgit Moldenhauer lernen – und daß der Hausbesitzer, ein Mann aus dem Westen, „so total kalt“ auftritt wie aus einem Lehrbuch über Kapitalisten. „Nur einmal kam er vorbei und brachte uns die Kündigung. Nicht einen Blick hat er den Räumen gewidmet.“ Wenn „wir gehen“, sagt Birgit Moldenhauer, „ist die Atmosphäre um den Kollwitzplatz ganz kaputt“. Dann gebe es keine Kultur mehr.

Die ist ohnehin nur noch in Trümmern vorhanden. Der einst verträumte Kiez mutierte zum Touristen-Staubsauger. Mit der Videokamera dokumentieren Urlaubertrupps Tag und Nacht die Nachkriegskulisse Prenzlauer Berg – und die Eingeborenen müssen sich fragen lassen: „Wie kann man denn hier wohnen?“ Mit einem Schauer auf der Haut inspizieren die Ossigucker Briefkästen und Hinterhöfe, Treppenhäuser und Toiletten – und gruseln sich vor Graffiti wie „Nur ein toter Wessi ist ein guter Wessi“. Die im Programm inbegriffene Flucht in die sterilen Kneipen rundherum nimmt ihnen das Entsetzen – sowie das lose sitzende Geld. Das Kneipenkollektiv am Kollwitzplatz ködert mit teuren und spartanischen Speisen.

Längst flüchten die kulturell obdachlosen Anwohner in entferntere Straßen: in „Proll-Kneipen“, wo sie vor den vermögenden Fremden sicher sind. Und Bezirksbürgermeister Reinhard Kraetzer (SPD) sagt: „Ich will die Identität des Prenzlauer Bergs wahren.“ Der Kollwitzplatz, sagt ein ortsansässig spekulierender Immobilienmakler, „ist die Goldgrube von Berlin, nicht der Potsdamer Platz“. Manche Etablissements auf dem postsozialistischen Terrain verbuchen an Samstagen einen Reingewinn von 10.000 Mark. Über 100 Kneipen und Restaurants haben sich in letzter Zeit um Kollwitz- und Wasserturmplatz angesiedelt. Der Stadtteil mit 145.000 Einwohnern hat Kreuzberg den Rang abgelaufen. Selbst mitternachts strömen vorzugsweise Westberliner und ihre Besucher auf den Trottoirs von Europas größtem Altbausanierungsgebiet entlang „wie zur Mittagspause auf der Wall Street“, sagt ein Kellner. Autos auf Parkplatzsuche, zugepinkelte Hauseingänge, gepfefferte Preise, Techno-Rhythmen bis frühmorgens und Müll – die Anwohner fühlen sich fremd in der Heimat.

Wenn die Touristenbusse sich durch die Straßen quetschen, lehnt sich Monika Banaschewski extra aus dem Fenster und ruft: „Willkommen im Ossi-Park!“ Auf ihrem Briefkasten pappt ein Aufkleber „Bitte keine Werbung einwerfen, nur Geldscheine“ – im Zoo müsse man schließlich auch Eintritt bezahlen. Die Speditionskauffrau lebt seit 33 Jahren in der Sredzkistraße, jetzt „ist hier jeden Sommer Krieg“. Tatsächlich wackeln ihre Schränke im Wohnzimmer, wenn ein Reisebus passiert. Manchmal zischt Frau Banaschewski den Zaungästen zu: „Stellen Sie sich vor, wir haben sogar fließendes Wasser.“

Der Rummel am Kollwitzplatz erzeugt Osttrotz. Nachts impfen westliche Landungstruppen dem Herzen von Prenzlauer Berg Leben ein, tagsüber setzt es aus. Die Seele fehlt dem Areal, Brigitte Moldenhauer würde sagen „die Mischung“. Zusammen mit ihrer Klientel, den Kindern vom Kiez Kollwitzplatz, sammelt sie Unterschriften: „Rettet die Bibliothek!“ Mehr bleibt ihr ja nicht übrig. Außer einer Gewißheit, mit der sich das Neue verkraften läßt: „Ich hänge dem Alten nicht hinterher, aber die DDR war ja nicht nur schlecht.“

Die Original-Ossis von Prenzlauer Berg konservieren in ihren Köpfen ein abhanden gekommenes Kiez-Gefühl, und die zugezogenen Wessis, Flüchtlinge aus Kreuzberg und vermögende Bonn-Beamte, tun so, als seien sie selbst welche und sprechen von „ihrem Kiez“ oder „hoffnungslos Schwabing“: als lebten sie schon immer hier. Sie kennen allerdings nur die Not mit dem Parkplatz und kaufen im KaDeWe. „Nur da“, sagt eine Münchnerin, „kriege ich mein Shiseido-Make-up.“

Ausgerechnet Christian Stolzenburg, der Wirt von „1900“ und „Santiago“, findet „eigentlich schade“, daß es nur noch Kneipen gibt und keine „gesunde Mischung“. Stolzenburg, der Empanadas offeriert, wo früher Briefmarken verkauft wurden, hätte gerne Schreibwarengeschäfte oder Schuster. Die Kneipen machten den Kollwitzplatz kaputt: „Am Tag passiert zu wenig.“ Das „1900“ gibt es seit 13 Jahren, weshalb Stolzenberg eine gewisse Narrenfreiheit besitzt: Auch Nachbarn essen bei ihm. Wie ein Märchen kommt ihm vor, was um ihn herum passiert: Jeden Abend ausgebucht. In ruhigen Momenten fragt er sich bang: Hört der Boom irgendwann auf?

Hoffentlich bald, danach sehnen sich die Frauen und Männer der Betroffenenvertretung Kollwitzplatz. In einem Ladenbüro an der Kollwitzstraße, aus dem demnächst dann auch eine Kneipe wird, diskutieren sie darüber, wie viele Kneipen der Kiez wohl braucht. Viel ausrichten können sie nicht, der Bibliotheksschließung etwa müssen sie machtlos zusehen. Eher fungieren sie wie ein Gedächtnis – solange es die Betroffenenvertretung gibt, so lange ist der Kampf Ost gegen West noch nicht entschieden.

Auf einer überfüllten Anwohnerdiskussion mit hilflosen Bezirksamtsvertretern und hilflosen Polizisten war man sich einig, die Attraktivität des Kollwitzplatzes „zurückzudrehen“. Draußen sitzen soll nur noch bis 22 Uhr erlaubt sein. Die Anwohner jubelten und sahen sich wieder bei offenen Fenstern schlafen. „Wir wollen nicht zum Vergnügungspark Berlins verkommen!“ brüllte einer, als er erfuhr, demnächst entstünde ein Kino mit 3.000 Plätzen. Eigentlich aber wollen die Anwohner ihren Kiez wiederhaben, so wie er früher war – das entspricht genau dem Berliner Gemüt. „Die Leute ziehen sich zurück, wenn sie in den Kneipen keine Gesichter mehr wiedererkennen“, sagt Anna Vandenhertz von der Betroffenenvertretung.

Und wenn ein Anwohner nachts abgeschleppt wird, weil er nur noch verboten parken konnte, wird die Wiedervereinigung zur Widervereinigung. „Noch nicht mal mehr mein Auto abstellen kann ich“, empörte sich einer, „das ist Vertriebenenpolitik. Warum bleiben die nicht im Westen!“ „Ost und West haben sich hier getroffen“, sagt Anna Vandenhertz, „und wissen nun, daß sie sich nicht mehr treffen müssen.“ Die Wessis freuten sich über jeden Ökoladen im Kiez, die Ossis über jede Kneipe, die dichtmacht.

„Die Leute hier sind sehr empfindlich“, sagt Marianne Grönke, die zusammen mit ihrem Mann eine Fleischerei betreibt. „Sie verbuchen alle Veränderungen gegen sich.“ Einen West-Kunden erkennt Frau Grönke daran, wie er bestellt: „Der sagt: ,Sie dürfen mir 100 Gramm Jagdwurst geben.‘“ Ihre Ost-Kunden seien weniger gelassen. Die bestellten abgezählte Wurstscheiben, „die sagen: ,Hätten Sie?‘, ,Könnte ich?‘“

Seit 40 Jahren guckt Frau Grönke auf dieselbe Häuserecke, sie wohnt über der Fleischerei. Niemand kennt den Prenzlauer Berg so gut wie sie. Frau Grönke übt sich in Marktwirtschaft und darin, den Groll ihrer Kunden auf jene Leute zu dämpfen, die in ihre Wohnungen einziehen und die Brötchenpreise steigen lassen. Dabei hätte sie allen Grund, selber Groll zu hegen: Das Haus, in dem sie arbeitet und lebt, wird notverwaltet, der Mietvertrag läuft in drei Jahren aus. Was dann kommt, raubt ihr den Schlaf. Frau Grönke sagt: „Viele haben keine Arbeit, hier herrscht eine ganz depressive Stimmung, die die Kneipenbesucher gar nicht mitkriegen.“

Wie denn auch, bei dem Lärm. Im Sommer ist Oropax die meistgefragte Ware, Renate Schafenstein kommt kaum nach mit dem Bestellen. Dutzendfach verkauft sie Oropax, oft für ganze Familien. Wenn ihr das nur helfen würde. Sie hat 1993 einen Kosmetik- und Haushaltswarenladen übernommen in Spuckweite zur Goldgrube Kollwitzplatz. Die Lage nützt ihr gar nichts: „Die Leute, die hier wohnen, haben kein Geld, und die Touristen holen höchstens mal einen Film.“ Es gibt Tage, da steht sich Frau Schafenstein inmitten ihrer Wäscheständer, Beileidspostkarten, Katzenfutter- und Niveacremedosen die Beine in den Bauch.

„Oft verdiene ich gar nichts, aber soll ich zu Hause Löcher in die Luft starren?“ Vor der Wende arbeitete sie als Chemielaborantin, nur durch Zufall führt sie nun den Laden, den keiner so richtig braucht. Im Dezember hat die Durststrecke ein Ende, dann schließt sie das Minus- Geschäft – um Platz zu machen für eine Bar. „Wenn es mir bis hier steht“, sagt Renate Schafenstein und hält ihre Hand über der Stirn, „dann könnte die Mauer wieder stehen.“ Diesmal allerdings „dreimal höher“.