Trauer um sich selbst

Mittwoch, 23.00 Uhr, Spannung und übergroße Erwartung in meinem 400 Quadratmeter großen Bungalow am Wannsee. Spannung auch bei meinen Bediensteten und der vier Jahre alten Schäferhündin Schanza. Wird Biolek Helmut Kohl provozieren bzw. einen Skandal machen? Und wenn ja, mit welchen Mitteln? Fragen über Fragen, und dann geht es los... Gott betritt die Bühne... 200 Meter hoch, 600 Meter breit... der Golem, des Teufels General, Monsieur Pipi... tausend Jahre im Amt, das Hambacher Fest... Schweißtuch in der Tasche, die Kämpfe um Worms und Speyer fest im Blick...

Kohl ist ein Mann, den ich wirklich verehre. Aufrichtig, humorvoll, bereit, seine Fehler im Alter zu bekennen. Voller Trauer, daß diese Welt nicht so gut ist, wie sie hätte sein können. Und genau da packt diese Sendung! Genau da bekomme ich feuchte Augen! „Wir müssen weg von diesem engen Zentralismus!“ Und Jelzin steht kurz vor der Operation, die Kohl noch bevorsteht!... meine Bediensteten weinen... mein Schäferhund jault!

Diese Sendung war voller Trauer. Trauer nach Heimat, nach der verspielten Möglichkeit, in unserer Zeit als Sonnenkönig den Armen und Waisen zu helfen und dafür geliebt zu werden. Das, was Karl-Heinz Böhm tatsächlich praktiziert – doch Kohl weiß, daß der Wolfgangsee kein Äthiopien ist. Das Leben als Rezept? O nein! Jeder Versuch scheitert, denn das Leben schmeckt nicht nach Mutters Karamelkuchen (18 Eier), sondern nach Fat-free-Marmelade. WIR SIND ZU GESUND!!!

Kohl ist, der das Gute will und um sich selber trauert. Voll steter Rührung, den Schweißtropfen als Träne hinter der Brille, die Falten als Furchen und Zeichen der Erfahrung und eine glückliche, begeisterte Frau an seiner Seite. Der Abend war gut, Kohl ist ein Meister!

Auch ich werde in vier bis fünf Jahren, wie jeder gute Mensch, zur CDU wechseln und dermaßen traurig und gesättigt sein, daß mein Humor schöner und größer sein wird, als dieses Deutschland jemals sein kann! Dann liege ich abends im Bett und sage meiner Frau, daß ich sie liebe und daß sie sich ein neues Gesicht kaufen darf. So wie ich mir die Leber rausnehmen werde und das Fett in die Dritte Welt schicke. Christoph Schlingensief, Regisseur