CNN wartet auf die große Naturkatastrophe

■ ...und der Ziegenhirt Gudlangur Gunnarsson auf ein grandioses Schauspiel. Die Einheimischen haben sich an Vulkane und Flutwellen längst gewöhnt

Gudlangur Gunnarsson lebt mit seiner Herde Ziegen ein Stück unterhalb eines der schmutziggrauen Gletscherzwerge des Vatnajökull. Er kennt das alles schon von damals, als er gerade zehn Jahre alt war. Damals, das war 1938, als der mit einer dicken Gletscherschicht bedeckte Vulkan ebenfalls tagelang rumort, Glut gespuckt und Unmengen von Gletschereis geschmolzen hatte. „Dann kam die Flut, dort drüben. Wir hatten keine Angst. Wir haben mehr Angst vor der bebenden Erde und dem Vulkanspeien gehabt. Riesige Eisberge sind einfach vorbeigeschwommen. Dort ist einer gestrandet.“

Wo er gestrandet war, vor fast 60 Jahren, hat er ein tiefes Loch in die Sand-und-Geröll-Wüste gefräst. Ein zweistöckiges Wohnhaus würde jetzt bequem Platz darin finden.

Ziegenhirt Gunnarsson gehört zu den Einheimischen, die gegenwärtig verschärft von den Journalisten der internationalen Medien gesucht werden. Mit ihren angemieteten Jeeps dringen sie zu den einsam stehenden Häusern der Bauern vor, die verstreut um den Vatnajökull wohnen. Vergeblich versuchen sie, einen vor die Kamera zu bekommen, der vor Angst schlottert und den Vulkan fürchtet. Wenn das so wäre, würden sie hier nicht leben. Im Schnitt einmal alle fünf Jahre bricht der Gletschersee durch, überschwemmen kleinere Flutwellen das Land. Sie haben sich an die Gefahr gewöhnt, kennen „ihren“ Vulkan, glauben besser als die Wissenschaftler zu wissen, wo die Flutwelle sich den Weg zum Meer bahnen wird.

„Es wird nicht die gleiche Flut sein wie 1938“, ist sich Gudlangur sicher. „Der Gletscher ist seitdem mächtig abgeschmolzen, das Wasser wird sich einen anderen Weg suchen, mehr nach Südosten. Und es wird weniger sein als damals.“

Einar Svenbjörnsen vom Meteorologischen Institut in Reykjavik, wo sich eine Unmenge Forscher stetig mit Erdbeben und Vulkanausbrüchen befassen, ist anderer Meinung. Er glaubt eher an eine schlimmere Flutwelle als 1938. 30.000 Kubimeter Wasser pro Sekunde, vielleicht noch mehr, würden mit der Flutwelle ins Meer stürzen.

Bei den Behörden in Reykjavik herrscht seit über einer Woche höchste Alarmbereitschaft. Man fürchtet weniger um Menschenleben. Da, wo auf der Übersichtskarte ein dicker roter Pfeil den mutmaßlichen Weg der Flutwelle bezeichnet, wohnt angeblich niemand. Aber es bleibt ein Restrisiko: Der durchbrechende Gletschersee muß sich gefälligst an die Vorausberechnungen der Experten halten und genau an jener Stelle den Gletscher aufbrechen, wo diese es erwarten.

Auf dem Weg zum Meer durch die Ödnis des südöstlichen Teils Islands hat die Flutwelle dann „nur“ noch einige Stromleitungen vor sich. Und die wichtige Ringstraße – sie ist die einzige Wegverbindung zwischen der Hauptstadt Reykjavik und dem Ostteil der Insel. Hier versucht man fieberhaft, die wichtigsten Brücken gegen die Flut abzusichern. Tiefe Wallgräben werden vom Caterbillar in der unbewohnten Sandwüste des Skeidararsandur-Delta geschaufelt, über das die Flutwelle vermutlich ins Meer stürzen wird. Sie sollen das Straßenfundament und die Brückenpfeiler schützen.

Kann man im Norden Islands, in Akureyri und Husavik, bei passender Windrichtung zumindest den Schwefelgeruch des ausgebrochenen Vulkans Bardarbunga in die Nase bekommen, müssen die Bewohner der Hauptstadt schon CNN einschalten, um einen näheren Eindruck von der am anderen Ende der Insel drohenden Naturkatastrophe zu bekommen. Doch die Fernsehleute haben ganz offenbar Schwierigkeiten, ein Katastrophenszenario bildschirmgerecht einzufangen, weil sich boshafterweise eine dicken Wolkenwand vor den Tatort geschoben hat und weder glühender Ascheregen noch heiße Lavaströme zu sehen sind.

Angst hat man in Reykjavik weniger vor dem, was die Wassermassen des Gletschers Vatnajökull anstellen können. Gefährlich erscheinen eher die seismischen Aktivitäten, die den Vulkan im Osten „geweckt“ haben. Sie könnten sich möglicherweise hierher nach Westen fortsetzen.

Und Gudlangur? Was wird er machen, wenn sie tatsächlich kommt, die große Flut? „Ich werde sicher genau hier stehen. Mit meinen Ziegen. Und zuschauen, wie die großen Eisberge vorbeischwimmen. Und mich an dem Schauspiel erfreuen. Genau wie damals.“