Für die Zukunft auf die Straße

In Reinickendorf protestierten viertausend SchülerInnen aus dreizehn Schulen gegen die Sparmaßnahmen und ausfallenden Unterricht  ■ Von Jens Rübsam

Ilse Koch sitzt unruhig in ihrem Sessel. Draußen auf dem Hof stehen ihre Schüler, falten Plakate auseinander, kramen Pfeifen aus den Hosentaschen. Eigentlich müßten sie jetzt, viertel vor zehn, brav in ihren Klassenräumen sitzen. Eigentlich.

An der Reinickendorfer Max- Beckmann-Gesamtschule ist heute kein normaler Schultag. Die Lehrer sind zwar gekommen, die Schüler aber nicht. Sie wollen demonstrieren – gegen die vom Senat beschlossenen Sparmaßnahmen im Schulbereich und für ihre Zukunft. Am liebsten würde Ilse Koch, die Schulleiterin, jetzt auch unten bei ihren 900 Schülern stehen. Aber sie darf nicht. Wie sie auch nichts sagen darf zu dem Sternmarsch der 13 Reinickendorfer Schulen und zu den rapiden Einschnitten. Das Landesschulamt hat allen Direktoren ein Redeverbot gegenüber der Presse auferlegt. Was sie tun kann, ist, ein Papier weiterzureichen mit der Überschrift „Was sich im Schuljahr 1996/97 verschlechert hat“. Zu lesen ist da: die durchschnittliche Schülerzahl pro Klasse hat sich von 27 auf 29 erhöht und die materielle Ausstattung gravierend verschlechtert; fünf Lehrer mußten vor Schuljahresbeginn gehen, obwohl sich die Schülerzahl vergrößert hat; seit dem 1. Juni werden die Räume nur noch einmal pro Woche von einer Firma gereinigt; eine befristete Lehrkraft als Vertretung für erkrankte Lehrer gibt es nicht mehr.

Pünktlich um zehn Uhr setzt sich der Protestmarsch der Max- Beckmann-Schule in Bewegung. Matay Erdinc, der Schulsprecher, sorgt für Ordnung und ruft: „Schlechte Bildung, schlechte Zukunft. Bildung muß ein Grundrecht bleiben.“ Jeder der dreizehn Demonstrationszüge trägt dieses Motto der Veranstaltung auf einem großen schwarzen Transparent vor sich her.

Ganz hinten im Zug laufen Katharina Reszka und Anja Wieberg. Sie sind im dritten Schuljahr der Oberstufe und ziemlich frustriert. Warum? „Unterricht fällt aus, weil Lehrer fehlen, Bücher fehlen, weil die Schule kein Geld hat, es kann nicht mehr kopiert werden, ohne zuzahlen zu müssen.“ Katastrophal sei die ganze Situation.

Fünfzehn Jahre schon ist Elisabeth Willkomm aktiv in der bezirklichen Elternarbeit, aber „so was wie heute habe ich noch nie gesehen“. Daß sich über 4.000 Schüler aufraffen, um ihrem Ärger Luft zu machen, „finde ich einfach nur toll“. Sie selbst ist Mutter von schulpflichtigen Kindern und kennt die Probleme ganz genau. „Ein halbes Jahr fiel bei zweien der Physikunterricht aus, weil keine Vertretung da war. So was kann doch nicht sein.“ Elisabeth Willkomm, inzwischen Vorsitzende des Reinickendorfer Bezirksschulbeirates, befürchtet, „wenn es so weitergeht mit den Sparmaßnahmen“, amerikanische Verhältnisse. Lehrer würden zu reinen Fachlehrern verkommen, weil sie zu stark belastet seien. Die Folge: „Das Soziale in der Schularbeit fällt völlig weg.“

Der Platz vor dem Rathaus Reinickendorf droht inzwischen aus den Nähten zu platzen. Fünf Schulen mehr als erwartet sind gekommen, „damit hätten wir nun wirklich nicht gerechnet“. Taimor Tadros, einer der Organisatoren, geht aufs Podest und eröffnet die Abschlußkundgebung. Er fordert Lehrmittelfreiheit, wehrt sich gegen das Rasenmäherprinzip des Senats und prangert an: „Schüler verkommen zu Putzfrauen.“ Den Jugendlichen vom „Revolutionären Streikkomitee“ gehen die Forderungen nicht weit genug. Einer von ihnen nimmt sich das Mikro und sagt: „Man muß das ganze System kritisieren, nicht allein die Sparmaßnahmen.“ Und außerdem? „Es ist völlig Scheiße, daß hier Politiker reden dürfen, wir aber nicht.“ Dem Revoluzzer wird das Mikro abgeschaltet. Es darf sprechen Wolfgang Brennecke, der sozialdemokratische Bezirksstadtrat für Jugend und Schule. „Es ist notwendig, daß Berlin spart. Die Frage aber ist, wo.“

Ein paar Eier fliegen gen Rathausscheiben, ein paar Schüler, teilvermummt, motzen rum. „Alles kein Grund zur Aufregung“ sagt Polizeihauptkommissar Gert- Peter Thesenvitz. „Wir schreiten nicht ein, das wollen die doch nur. Wir zeigen Größe.“ Fünf vor zwölf ist die Veranstaltung friedlich beendet.

Offen bleibt, mit welchen Sanktionen die 4.000 Schüler für ihr Fernbleiben von der Schule belegt werden. Ein Tag unentschuldigtes Fehlen?