: Das kleine ABC der Gesundheitsreform
Heute findet im Bundestag die große Debatte zur dritten Stufe der Gesundheitsreform statt: Daher ein taz- Almanach der verwirrenden Begriffe, der hoffentlich beim Entwirren helfen kann, zusammengestellt ■ Von Florian Gless
Arzneimittel: Die Zuzahlung wird vom 1. Januar an um eine Mark erhöht.
Auslandsleistungen: s. Gestaltungsleistungen.
Beiträge:Gesundheitsminister Seehofer (CSU) will unbedingt verhindern, daß die Krankenkassen ihre Beiträge erhöhen. Er hat sogar zum 1. Januar eine Beitragssenkung um 0,4 Prozent verordnet. Unter bestimmten Voraussetzungen (etwa nach ungünstigem Geschäftsjahr) soll eine Beitragsanhebung der Kassen mit einer Erhöhung der Zuzahlungen gekoppelt werden. Dafür kann der Versicherte bei einer Beitragserhöhung sofort zum Monatsende seine Krankenkasse kündigen und zu einer anderen wechseln. Mögliche Konsequenzen: Rudolf Dressler (SPD) fürchtet, daß viele Kassen in ihrer „Existenz bedroht“ würden. Chronisch Kranke: Zwar werden bei ihnen einerseits die Zuzahlungen zu Fahrtkosten, Arznei-, Verband- und Heilmitteln von zwei auf ein Prozent gesenkt, andererseits werden gerade diese Leistungen zu sogenannten Gestaltungsleistungen (s.dort).
Deregulierung: Ein weiteres Ziel von Seehofer. Der gesamte Gesundheitsbereich soll – mit mehr Regeln – weniger kompliziert werden.
ErgotherapeutInnen, Fahrtkosten: S. Gestaltungsleistungen.
Gestaltungsleistungen:Sie sind neu und einer der wesentlichen Kritikpunkte. Die Krankenkassen sollen künftig selbst entscheiden, ob und wie sie bestimmte Leistungen anbieten und abrechnen. Zu den Gestaltungsleistungen zählen: Hilfsmittel (Bandagen, Einlagen, Kompressionsstrümpfe), häusliche Pflege, Fahrtkosten, Kuren und Reha-Maßnahmen, Heilmittel (Infusionen, Injektionen usw.) und Auslandsleistungen.
Die Kassen haben angekündigt, daß sie diese verhältnismäßig teuren Leistungen aus dem Programm nehmen werden. Denn: Sie dürfen zu ihrer Finanzierung weder die Beiträge erhöhen, noch den Risikostrukturausgleich in Anspruch nehmen. Also werden die Patienten selbst bezahlen müssen. Betroffene Berufe wie LogopädInnen, ErgotherapeutInnen, KrankengymnastInnen und Orthopädie-Techniker fürchten um ihre Existenz. Seehofer hat angekündigt, daß er diesen Entwurf noch einmal überdenken wolle, wenn die Kassen tatsächlich Leistungen streichen sollten.
Häusliche Pflege, Heilmittel, Hilfsmittel: S. Gestaltungsleistungen.
Individuelles Risiko: Der Versicherungsnehmer soll sich künftig gegen bestimmte Risiken versichern können. So kann er zum Beispiel die Kosten einer Reha-Maßnahme nach einem Schlaganfall mit einer Extraversicherung absichern. Damit werden private Elemente in die gesetzlichen Krankenversicherungen übertragen.
Kostenerstattung: In Zukunft sollen die Versicherungen Überschüsse an die Versicherten zurückzahlen oder für Beitragsermäßigungen verwenden können.
KrankengymnastInnen, Kuren, LogopädInnen: S. Gestaltungsleistungen.
Modellversuche: S. Verwaltung.
Neuordnungsgesetze: Ursprünglich bedurften die Gesetze zur dritten Stufe der Gesundheitsreform der Zustimmung durch den Bundesrat. Als die SPD ihre Ablehnung signalisierte, formulierten die Experten des Gesundheitsministeriums das Gesetzpaket um: Jetzt geht es um zwei sogenannte Neuordnungsgesetze, die nicht mehr zustimmungspflichtig sind und mit der Kanzlermehrheit beschlossen werden können.
Orthopädie-Techniker: S. Gestaltungsleistungen.
Pflegepersonalordnung (PPR): Sie ist erst 1992 eingeführt worden und soll nun schon wieder abgeschafft werden. Die PPR verpflichtet die Krankenhäuser, ihren Pflegepersonalbestand anhand der Bedürftigkeit der Patienten zu bemessen. Dadurch wurden seit 1992 zwischen 20.000 und 24.000 neue Stellen geschaffen. Die dadurch entstandenen Kosten sollen nun durch die Streichung der PPR wieder gesenkt werden. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe fürchtet, daß die Pflegesituation wieder auf den Stand der 70er Jahre zurückfallen könnte.
Reha-Maßnahmen: S. Gestaltungsleistungen.
Risikostrukturausgleich: Krankenkassen mit einem hohen Anteil von Rentnern und Kranken haben höhere Kosten, die von reicheren Kassen ausgeglichen werden. Teure Gestaltungsleistungen dürfen künftig nicht über diesen Ausgleich finanziert werden. Die Kassen haben daher angekündigt, Leistungen zu streichen.
Solidarprinzip: Das deutsche System der Krankenversicherungen baut auf dem Solidarprinzip zwischen Reichen und Armen, Gesunden und Kranken auf. Kassen und Wohlfahrtsverbände sehen die Gefahr, daß dieses Prinzip nun ausgehöhlt wird: Wenn Gestaltungsleistungen zu einer frei verfügbaren Ware würden, könnten sie nur noch von Besserverdienenden bezahlt werden. Ergebnis: die Zwei-Klassen-Medizin.
Terminplan Das zweite Neuordnungsgesetz wird am 29. Januar 1997 im Bundestag beschlossen. Es tritt rückwirkend zum 1. Januar in Kraft.
USA: Das abschreckende Beispiel. (S. Interview)
Verwaltung:Seehofer will die Verwaltungskosten der Krankenkassen um 150 Millionen Mark senken. Daher sollen sie sparen und im Rahmen vonModellversuchen neue Formen von Organisation, Finanzierung und Vergütung erproben und weiterentwikkeln.
Wettbewerb: Durch das neue Kündigungsrecht (s. Beiträge) wird der Wettbewerb zwischen den Kassen verschärft. Experten befürchten, daß sich damit amerikanische Verhältnisse in Deutschland durchsetzen könnten. Die USA haben die weltweit höchsten Gesundheitskosten.
Zahnärzte: Für Kinder und Jugendliche, die ab dem 1. Januar 1979 geboren sind, wird Zahnersatz nicht mehr mitbezahlt; für alle Versicherten gibt es keine Zuzahlung mehr bei Keramiken. Seehofer setzt auf eine stärkere Individualprophylaxe: Halbjährliche Kontrollen, regelmäßiges Zähneputzen. Angela Demmer von der Vereinigung demokratischer Zahnärzte hält das für ungerecht und ungenügend. Durch den Wegfall der Zuzahlungen würden besonders die sozial Schwachen betroffen. Zudem müßte vielmehr die Gruppenprophylaxe in Kindergärten und Schulen verstärkt werden. Zähneputzen allein reiche dabei nicht aus. Vielmehr müsse die Ernährung stärker berücksichtigt werden.
Außerdem sollen die bisher festgelegten Kosten für zahntechnische Produkte aufgehoben werden. Der Preis ist künftig zwischen Arzt und Techniker frei verhandelbar, eine Ersparnis soll dem Patienten und der Kasse zugute kommen. Dabei soll – wie bei Privatpatienten – direkt zwischen Arzt und Patient abgerechnet werden.
Angela Demmer sieht die Gefahr, daß die zahntechnische Produktion damit aus Kostengründen immer stärker nach Asien ausgelagert werde.
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