Das NS-Imageproblem der Schweizer Banken

Der Konflikt zwischen der Schweiz und dem Jüdischen Weltkongreß ist deeskaliert, die Boykottaufrufe sind vom Tisch. Offene Fragen bleiben – die Schweiz bekommt ihre Vergangenheit präsentiert  ■ Aus Zürich Oskar Scheiben

„Wenn ich gewisse Leute höre, so frage ich mich manchmal, ob Auschwitz in der Schweiz ist.“ Jean-Pascal Delamuraz, Schweizer Wirtschaftsminister und 1996 turnusgemäß Bundespräsident, wählte eine deftige Sprache, als er zu Silvester in einem Interview zu den Diskussionen über die Rolle des Schweizer Finanzplatzes während des Zweiten Weltkriegs befragt wurde. Niemand scheine in der Schweiz zu bemerken, so Delamuraz weiter, daß es „neben der hartnäckigen Suche nach der historischen Wahrheit auch einen kolossalen politischen Willen“ zur „Kompromittierung der Schweiz gebe“. Ziel sei es dabei, „den Finanzplatz Schweiz mit allen Mitteln zu diskreditieren“. Die Forderung des amerikanischen World Jewish Congress und anderer jüdischer Kreise, die Schweiz müsse sofort einen Fonds in der Höhe von 250 Millionen Franken für die Opfer des Holocausts und ihre Nachfahren errichten, lehnte er ab. Wie zuvor schon zwei andere Regierungsmitglieder erklärte er, zuerst müßten Ergebnisse einer im Dezember eingesetzten internationalen Historikerkommission abgewartet werden. Und denkbar unsensibel fügte der Politiker hinzu, es handle sich bei der Forderung um nichts anderes als um „Erpressung“ und um ein „Lösegeld“.

Hintergrund der sprachlichen Entgleisung war die seit November mehrmals geäußerte Drohung, man werde umfassende Boykottmaßnahmen gegen Schweizer Banken, neue Strafklagen und zusätzliche öffentliche Kampagnen prüfen, sollte die Schweiz nicht bis Februar 1997 einen solchen Fonds einrichten. Ein Boykott könnte dem Finanzplatz in der Tat enormen Schaden zufügen, denn Schweizer Banken halten in den USA bei der lukrativen Vermögensverwaltung einen Marktanteil von rund dreißig Prozent.

Beinahe alle Schweizer Medien kritisierten umgehend die Wortwahl des Bundespräsidenten, doch in der Sache fand dieser beim Publikum breite Unterstützung. Die Zeitungen wurden mit zustimmenden Zuschriften, die teilweise antisemitisch geprägt waren, überhäuft. Jüdische Organisationen empörten sich ob der „schockierenden Gefühllosigkeit“ des Ministers und verlangten, daß sich die Regierung offiziell von dessen Worten distanziere. Gleichzeitig wiederholten sowohl der Jüdische Weltkongreß wie die halbamtliche israelische Jewish Agency ihre Boykottdrohungen. Delamuraz seinerseits war nur gerade bereit, sein „Bedauern“ darüber auszudrücken, daß seine Äußerungen „die Empfindungen der Opfer des Holocausts und ihrer Familien verletzt haben könnten“.

Damit kulminierte eine seit dem Sommer 1996 zunehmend schärfer geführte öffentliche Kampagne gegen den Finanzplatz Schweiz. Die wichtigsten Vorwürfe lauteten, die Schweizer Banken hätten sogenannte nachrichtenlose Guthaben jüdischer Opfer des Holocausts gestohlen und die Schweizer Nationalbank sich am Nazi-Raubgold bereichert (siehe Text unten). Als „nachrichtenlos“ werden Guthaben bezeichnet, deren Inhaber nicht mehr aufzufinden sind.

Im Mittelpunkt der PR-Aktivitäten steht der New Yorker Senator Alfonse D'Amato. Das respektable jüdische Wählerpotential New Yorks im Auge, entwickelte er sich als Vorsitzender einer Senatskommission zu einem Lobbyisten der Holocaust-Opfer. Regelmäßig präsentieren er und sein Stab publikumswirksam irgendwelche neu gefundenen Dokumente mit oft zweifelhafter Aussagekraft. Auf jeden positiven Schritt der Schweiz reagiert er mit neuen Unterstellungen. Als beispielsweise im Mai 1996 eine aus Vertretern jüdischer Organisationen und Schweizer Persönlichkeiten zusammengesetzte Untersuchungskommission unter Vorsitz des US-Amerikaners Paul Volcker eingesetzt wurde, polterte er, es gehe der Schweiz bloß darum, „die Suche nach der Wahrheit weiter versanden zu lassen“.

Die Schweizer Diplomatie unterschätzte lange Zeit die Folgen dieser Kampagne, sie reagierte unkoordiniert und dilettantisch. Als die Regierung im Oktober endlich einen Sonderstab einsetzte, war der Imageschaden bereits eingetreten. Die seit Anfang 1996 von der Regierung und den Banken – auf ausländischen Druck – eingeleiteten Bemühungen zur Klärung der Vorwürfe ließen sich der internationalen Öffentlichkeit nicht mehr erfolgreich vermitteln.

So mußten die Eidgenossen peinliche neue Erfahrungen machen. Etwa konnte der New Yorker Anwalt Edward Fagan an einer Pressekonferenz unwidersprochen erklären: „Deutschland war in Nürnberg vor Gericht, die Schweiz wird es hier in Brooklyn sein.“ Der Historiker Thomas Maissen relativierte Anfang Januar in der Neuen Zürcher Zeitung die Vorwürfe: Die Juden in der Schweiz, einheimische und ausländische, sofern man sie hereinließ, haben überlebt. Niemand hat aktiv beim Völkermord mitgemacht. Im Fall der Schweiz gehe es „um unterlassene Hilfeleistung, nicht um Mord oder Beihilfe dazu“. Es gehe, so der Historiker zutreffend, um „Gleichgültigkeit“ gegenüber den Holocaust-Opfern und um „Indifferenz der Banken gegenüber dem Schicksal und der Vermögen von Menschen“ mit „schlecht dokumentierten Ansprüchen“.

Die Schweiz hat sich die Flut von Vorwürfen selbst zuzuschreiben. Seit Jahrzehnten verdrängt sie die negativen Seiten ihrer Vergangenheit. Kritische Forschung unterblieb weitgehend, und ihre Ergebnisse stießen auf Ablehnung. Die Schweiz war von faschistischen Mächten umringt und als rohstoffarmes Land zur Zusammenarbeit gezwungen. Aber es stellen sich viele, von den Historikern kaum beantwortete Fragen: Wo gab es Sachzwänge, wo nicht genutzte Handlungsspielräume, und wo wurde aus der Kollaboration schlicht Profit geschlagen?

Die Geschichte des Delamuraz- Interviews hat einen Epilog: Am 7.Januar lehnte es die Regierung ab, sich von den Äußerungen ihres letztjährigen Bundespräsidenten zu distanzieren, sie verwies nur auf die von diesem nachgereichte Erklärung. Sie weigerte sich weiterhin, sogleich einen Entschädigungsfonds in (der willkürlichen) Höhe von 250 Millionen Schweizer Franken einzurichten, erklärte sich aber bereit, umgehend Gespräche über einen aus nachrichtenlosen Guthaben gespeisten Fonds aufzunehmen. In der Schweizer Öffentlichkeit gibt es recht konkrete Vorstellungen, womit ein Entschädigungsfonds alimentiert werden könnte: Aus den nachrichtenlosen Bankguthaben (38,7 Millionen), aus den von der Nationalbank kassierten Handelsgebühren für das Nazi-Raubgold (15 Millionen) oder mit den 55 Millionen, welche jüdische Gemeinden für die Betreuung der 22.000 in die Schweiz geflüchteten Juden aufbringen mußten (mehr als 30.000 wurden abgewiesen).

Obwohl die Regierung also an ihrer Position festhielt, reagierten jüdische Kreise in der Schweiz ausgesprochen wohlwollend. Ein Grund dafür war die Furcht vor einer antisemitischen Welle, sollte sich der Konflikt weiter zuspitzen. Jüdische Organisationen hatten Hunderte von Schmähbriefen erhalten, eine Synagoge und ein jüdisches Restaurant wurden verschmiert. Sigi Feigel, der Ehrenpräsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, hatte bereits zuvor Boykottdrohungen als „politische Fehlleistung“ bezeichnet, die nicht nur der Sache schaden, sondern „darüber hinaus noch weiteres Unheil anrichten“.

Die Schweizer Juden mahnten ihre Partner in den USA und in Israel dringend zu mehr Zurückhaltung – weitgehend erfolgreich. Der World Jewish Congress dementierte, je Forderungen in einer bestimmten Höhe erhoben zu haben. Und der Wirtschaftsminister seinerseits nahm am Dienstag in einem Brief an den Präsidenten dieser Organisation seine – inzwischen gegenstandslos gewordenen – Aussagen zurück und entschuldigte sich: Seine Worte hätten auf „unpräzisen Informationen zur Schaffung des Fonds“ beruht. Edgar Bronfman, der Präsident des World Jewish Congress, nahm die Entschuldigung an: „Ich hoffe“, schrieb er an Delamuraz, „daß wir zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Schweizer Behörden und Banken zurückkehren können.“ Und am Mittwoch abend erklärte ein WJC-Sprecher, ein Boykott der Schweizer Banken stehe nicht mehr zur Debatte.