Rien ne va plus

Warum der Adolf Grimme Preis hinter seinem eigenen Generalkriterium, Vorbild für die Fernsehpraxis zu sein, immer weiter zurückbleiben muß  ■ Von Klaudia Brunst

In diesem Jahr sollte es endlich mal wieder glattgehen. Seit Jahren schon schlägt sich der Adolf Grimme Preis mit dem Problem herum, daß sich seit der Einführung des Dualen Systems das Fernsehangebot gewissermaßen alle 18 Monate verdoppelt. Schon aus diesem Grunde können die für den wichtigsten deutschen Fernsehpreis eingereichten (492!) Werke kaum noch von einer – noch so gewissenhaften – Nominierungskommission korrekt gesichtet werden. Und so schimpfte nach jeder Preisverleihung die Endjury auf ihre Vorhut, man habe viel zu viele lächerliche Stücke weitergereicht, Herausragendes aber blindlings übersehen; und die Nominierungskommission wütete gegen die Juroren, die die Innovationen der ausgewählten Werke mal wieder schlichtweg ignoriert hätten ... Man kannte das in Marl. Und ließ doch lieber alles beim alten.

Bis zum vergangenen Jahr. Da hatte die Jury „Allgemeine Programme“ für Marler Verhältnisse geradezu einen Reformsturm ausgelöst: Von der Arbeit der Nominierungskommission mal wieder tief enttäuscht, hatten die Juroren in diesem Jahr erstmals mit Liebesentzug reagiert, nur sechs von zehn möglichen Preisen vergeben und damit öffentlich und unmißverständlich ein eigenes Nachnominierungsrecht eingeklagt. Man beugte sich ihrem Zorn, änderte rasch die Statuten und stellte den Juroren in diesem Jahr anheim, maximal drei Sendungen für eine Nachnominierung in das Wettbewerbskontingent vorzuschlagen.

Und wirklich! In diesem Jahr wurden so gleich 15 von der Nominierungskommission bereits totgesagte Titel reanimiert – sowie zwei weitere, die nicht einmal nominiert gewesen waren. Schon war die Jury wieder ratlos. Hatte man bei den Fernsehspielen noch eine ungefähre Vorstellung, was hinter den von den Kollegen vorgeschlagenen Sendetiteln steckte, verbarg sich in der Sparte „Information und Dokumentation“ so manches Kleinod, das lediglich dem vorschlagenden Juror bekannt war.

Es war wohl vor allem einem beharrlichen Trotz geschuldet, daß man dieses unseriöse Auswahlverfahren nicht ebenso ostentativ ablehnte wie im vergangenen Jahr die Vergabe goldener Preise. Mit heftigen Bauchschmerzen ermendelte die Jury aus dem Pool der Nachnominierungen nach mündlichem Vortrag (!) des Vorschlagenden denn doch noch drei Wild- Cards: Dies nützte Matti Geschonnecks Thriller „Angst hat eine kalte Hand“ am Ende so wenig wie der MDR-Doku „Tod im Kreml“ von Eduard Schreiber und Regine Kühn über Bestattungsrituale kommunistischer Führer. Daß die (mit 6 Ja- gegen 2 Neinstimmen bei 6 Enthaltungen) nachgerückte WDR-Dokumentation „Glückselig in New York“ am Ende tatsächlich einen Preis fand, erscheint letztlich als ein teurer, auf dem Rücken der statuarischen Logik erkaufter Sieg.

Trotz aller Bemühungen liegt über den diesjährigen Preisen weiterhin der Schleier des Reformstaus. Zwar hatte der Stifter die Gelegenheit über den Jahreswechsel genutzt und „zur besseren Übersicht“ der Jury „Allgemeine Proramme“ zwei Preise einfach gestrichen. Trotzdem bleibt die Vergabe der insgesamt acht Trophäen völlig genreunabhängig. Zwar wird jede vernünftige Jury darauf achten, nicht ausschließlich Dokumentationen, nur Fernsehspiele oder nur Unterhaltendes auszuzeichenen. Aber was tun, wenn unter den 33 nominierten Sendungen überhaupt nur zwei Unterhaltungsangebote zu finden sind – die schließlich auch ausgezeichnete „Harald Schmidt-Show“ (Sat.1) und die unterlegene ARD-Kuppelschau „Allein oder Fröhlich“? Was anfangen damit, daß die Serienjury Dieter Wedels „Schattenmann“ als Fünfteiler auszeichnete und Adolf Winkelmann für den Zweiteiler „Der letzte Kurier“ mit Grimmegold ehrte, ohne daß die beiden Stücke je gegeneinander gewogen wurden?

Was dem Grimmepreis immer offensichtlicher fehlt, ist ein der sich verändernden Medienlandschaft Rechnung tragender medientheoretischer Unterbau. Das von den Stiftern sogenannte „Generalkriterium“ für preiswürdige Fernsehsendungen, welche „die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen auf hervorragende Weise nutzen und nach Form und Inhalt Vorbild für die Fernsehpraxis sein können“, reicht längst nicht mehr als systematische Richtschnur für die Preisvergabepolitik aus. So weitschweifig, wie das Fernsehjahr derzeit vermessen wird, bleibt es dem Fingerspitzengefühl der jeweiligen Jury überlassen, wie etwa „Vorbild für die Fernsehpraxis“ definiert wird.

Tendenziell hat der Grimme- Preis etwas durchaus sympathisch (Wert-)Konservatives. Aber was ist Qualität in der Realität des Fernsehjahres 1996? Es hat den Anschein, als versammelten sich in Marl vor allem die Hüter jener immer mehr schwindenden (in der Tradition der Öffentlich-Rechtlichen stehenden) Fernsehkultur, die von wirtschaftlichen Produktionsbedingungen und Kriterien der Marktgängigkeit selbst heute noch weitgehend unberührt ist. Oder wie kommt es, daß wieder einmal nur je ein Preis an RTL und Sat.1 vergeben wurden?

Aber selbst ARD und ZDF fahren längst zweigleisig: hie die preiswerte, aber quotenträchtige Familienserie, dort die gut budgetierte, grimmepreiswürdige Fernsehspielproduktion. Ein zeitgemäßer Fernsehpreis muß sich also von alten Einteilungsmustern lösen. Nicht mehr das formale Kriterium (Serie oder Einzelwerk) darf entscheidend sein, sondern die Intention, mit der ein Beitrag auf den Schirm kam: Will er informieren oder unterhalten? Ist er als prestigeträchtiges Gesamtkunstwerk oder als ambitionierte Dutzendware angelegt? Wir kommen nicht umhin, ein unterhaltendes, mehrheitsfähiges Serienangebot wie „Girlfriends“ statt am „Schattenmann“ an der ZDF-Komödie „Eine fast perfekte Liebe“ zu messen. Was hat die investigative Reportage aus der Reihe „Gesucht wird“ mit Susanne Fröhlich zu tun? So lange die Jury gezwungen wird, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, wird sie sich tatsächlich jedes Jahr aufs neue für einen Früchtecocktail entscheiden müssen.

Sinnvoller als dieses doch eher hilflose Verfahren, wäre eine grundsätzliche Neuordnung der jeweiligen Sparten und Preise. Denkbar ist eine Aufteilung in drei Kategorien: In der Sparte „Fiktion und Mehrteiler“ träfen sich die großen und kleinen Fernsehspiele mit den (meist selbst bei ARD und ZDF nur einmal pro Jahr finanzierbaren) aufwendigen Mehrteilern à la „Schattenmann“ oder „Der letzte Kurier“. In der Rubrik „Serie und Unterhaltung“ würden all jene periodisch wiederkehrenden Sendungen zusammenggefaßt, die unter dem Diktum des Seriellen ihr Publikum finden müssen: die Spannbreite reichte also von der ZDF-Serie „Girlfriends“ bis zu Harald Schmidts täglicher Show. Unter „Information und Dokumentation“ fiele schließlich alles, was das Bildungs- und Informationsfernsehen ausmacht: von der „Tagesschau“ bis zu Lanzmanns „Tsahal“, von der Kulturreportage bis zum Undercover-Feature.

Eine solche Neuordnung birgt – wie jede Ordnung! – auch ihre systematischen Schwächen. Aber: Die Nominierungskommissionen wären künftig gezwungen, auch ein dem TV-Jahr entsprechendes Unterhaltungskontingent „nach oben zu schicken“. Und: Wer am Anfang eines Fernsehjahres für eine der Jurys ausgewählt wurde, weiß zumindest, welche Sendestrecken er oder sie vorrangig beobachten sollte. Dann hätte auch das Nachnominierungsrecht für die Jury einen Sinn. Solange wir aber noch daran festhalten, es gäbe noch so etwas wie eine Sinneinheit „Allgemeine Programme“, sollte die Jury es doch bei dem Prinzip belassen: What you see, ist what you get.

Die Autorin war in diesem Jahr Mitglied der Jury in der Sparte „Allgemeine Programme“