Prinz Jussuf machte den „Blauen Reiter“

Else Lasker-Schüler, der im Französischen Dom eine Werkschau gewidmet wird, lebte in geschützten Phantasiewelten, die erst durch die Vertreibung einen Bruch erlitten. Jetzt wurden die Werke der Dichterin angemessen ediert  ■ Von Stefan Koldehoff

Als Gottfried Benn im Februar 1952 im British Center in Berlin sein seither oft zitiertes Urteil verkündete: „Dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, wußten die meisten seiner Zuhörer mit dem Namen Else Lasker-Schüler kaum etwas anzufangen – und erst recht nichts mit ihren Gedichten. Die Nationalsozialisten hatten ganze Arbeit geleistet: Lasker- Schülers Werke waren verbrannt, die wenigen Zeichnungen, die es von ihr in deutschem Museumsbesitz gab, erst beschlagnahmt und dann billig verscherbelt worden. Mit ihrem 20. Todestag 1965 setzte zwar die langsame Wiederentdeckung der zeichnenden Dichterin ein. Eine philologisch haltbare Ausgabe ihrer Werke aber liegt erst jetzt vor, ein halbes Jahrhundert, nachdem die deutsche Jüdin mittellos und einsam im unfreiwilligen Jerusalemer Exil starb.

Als deutsch-israelische Kooperation im Auftrag des Franz-Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach entstanden, ist im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp der erste Doppelband der „Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers“ erschienen. Er verspricht trotz einiger Unzulänglichkeiten, der Kleistpreisträgerin endlich jenen Ruhm zuteil werden zu lassen, der ihr längst gebührt hätte. Zugleich ist der Doppelband mit Gedichten und dazugehörigen Anmerkungen der Auftakt zu einer lange überfälligen Werkedition, die ursprünglich zwölf Bände umfassen sollte und nun noch auf sieben angelegt ist: Je einer mit Gedichten und Dramen, zwei mit Prosa und drei mit Briefen und Zeichnungen Lasker-Schülers samt Anmerkungen.

Wer das Erscheinen der „Kritischen Edition“ zum Anlaß nimmt, Else Lasker-Schülers Gedichte noch einmal neu zu lesen, wird feststellen, wie wenig ihre nicht dem expressionistischen Zeitgeist, sondern allein dem individuellen Fühlen verpflichtete Lyrik in den seit ihrer Entstehung vergangenen Jahrzehnten an Kraft verloren hat, wie wenig Ausschuß die Vielschreiberin produzierte und wie recht Benn hatte, als er 1952 beschrieb: „Ihre Themen waren vielfach jüdisch, ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch, eine Sprache, reif und süß, in jeder Wendung dem Kern des Schöpferischen entsprossen.“ In den 506 nachgewiesenen Gedichten und Gedichtfragmenten – tatsächlich gibt es einige mehr, als die „Kritische Ausgabe“ beinhaltet – eröffnet sich der gesamte Kosmos, den die Dichterin während ihres 75jährigen Lebens geschaffen hat. Keine Freundin, kein Angebeteter, dem die pausenlos verliebte Dichterin mit den wechselnden Geburtsdaten in einem eigenen Widmungsgedicht nicht auch einen Ehrennamen gibt. Aus Karl Kraus wird, gegen seinen erklärten Willen, der „Dalai Lama“, aus Franz Marc der seither unsterbliche „Blaue Reiter“ und aus dem vergeblich angebeteten Gottfried Benn „König Giselheer der Nibelungen“.

Else Lasker-Schülers Gedichte erzählen wie ihre Prosa von der fernen Traumstadt Theben, von den Abenteuern ihres Alter ego, des Prinzen Jussuf von Theben, von seinen Häuptlingen und immer wieder von der nie ganz erfüllten Sehnsucht der Ruhelosen nach Liebe und nach Heimat.

Erste Kritiker qualifizierten ihre frühen Gedichte verächtlich als „Frauenlyrik“ ab. Tatsächlich sind die nun chronologisch nach dem Datum der Erstveröffentlichung geordneten Gedichte Else Lasker-Schülers zugleich ein Spiegel ihrer Gemütszustände wie ihrer Biographie.

Die selbst gewollte Scheidung von ihrem ersten Mann, dem Berliner Arzt Jonathan Bertold Lasker, im April 1903, beschreibt sie verschlüsselt im vier Jahre später erschienenen Band „Die Nächte Tino von Bagdads“. Im darin enthaltenen Gedicht „Ich träume so leise von dir ...“ erinnert sie sich traurig: „Und ich habe dir doch von großen Sternen erzählt, / Aber du hast zur Erde gesehen.“ In der Zweitauflage des Buches 1919 sind die wehmütigen Gedichte schon nicht mehr enthalten.

Als ihr zweiter Mann Georg Levin, dem Else Lasker-Schüler den Namen Herwarth Walden gibt, sie 1910 verläßt und sie im Herbst 1912 den 17 Jahre jüngeren Gottfried Benn kennenlernt, widmet sie auch ihm sofort ein Gedicht, „O, deine Hände“. Und auch unmittelbar nach dem Tod ihres 1899 geborenen einzigen Sohnes Paul, von dessen Vater Else Lasker- Schüler Zeit ihres Lebens nicht mehr als den offenbar fiktiven Namen Alkibiades de Rouan bekanntgab, entsteht 1927 ein Abschiedstext mit den Zeilen: „Wenn ein Kind stirbt, weiß man, daß Raum und Zeit Zustand ist, und man vermag nur zu knien, sein Kind im Sterben zu erreichen.“

Wirkliche Brüche erfährt die liebevoll errichtete und sorgsam gepflegte Phantasiewelt Else Lasker-Schülers trotzdem erst, als die 64jährige im Januar 1933 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz fliehen muß. Auch dort wird sie von den Detektiven der Fremdenpolizei überwacht. Neun Tage zuvor hatte sich die Dichterin den Kleist-Preis mit dem völkischen Blut-und-Boden-Dichter Richard Billinger teilen müssen.

„Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe“. Band 1.1 und 1.2: Gedichte. Geb. im Schuber, Jüdischer Verlag, Frankfurt/Main 1996, 296 DM