„Jeden morgen fliegen hier die Steine“

Seit dem Beginn des umstrittenen Siedlungsbaus in Ost-Jerusalem kommt es in Hebron täglich zu Unruhen. Der Tod von drei Palästinensern hat die Konfrontation noch weiter verschärft  ■ Aus Hebron Georg Baltissen

Das Schlachtfeld ist genau markiert. Die Shallala-Straße, die zum Viertel der jüdischen Siedler in der Altstadt von Hebron führt, ist mit Steinen übersät. Auf einer Tiefe von dreißig, vierzig Metern liegen auf voller Straßenbreite Steinbrocken auf dem Asphalt, mal handlich kleine, aber scharfkantige Wurfgeschosse, mal dickere, unförmige Brocken, bei denen man sich schwer vorstellen kann, daß sie mehr als fünf oder zehn Meter hätten geschleudert werden können. Stumme Zeugen einer Schlacht, die in dieser Stadt im Westjordanland seit drei Wochen, seit Beginn des Siedlungsbaus auf dem Hügel Abu Ghneim in Ost-Jerusalem, täglich ausgefochten wird. Bis zu Beginn dieser Woche allerdings mit der gebührenden Distanz zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischen Soldaten.

Doch seit zwei Jeshiva-Studenten am Dienstag nach einer vermeintlichen Attacke einen Palästinenser erschossen und einen zweiten schwer verletzt haben, sind sich Demonstranten, palästinensische Polizisten und israelische Soldaten so nahe gekommen wie nie zuvor seit der Unterzeichnung des Hebron-Abkommens im Januar. Mit fatalen Folgen. Die von israelischer Seite eingesetzten Hartgummikugeln töteten nicht nur zwei weitere, sondern verletzten bislang mehr als 150 Palästinenser so schwer, daß sie sich in ärztliche Behandlung begeben mußten. Auf israelischer Seite waren es knapp ein Dutzend Soldaten, die durch Steinwürfe verwundet wurden.

Am Beginn der Shallala-Straße sitzen palästinensische Polizisten und Sicherheitskräfte des Geheimdienstes in Jeeps und Geländewagen. Sie erhielten viel Lob vom israelischen Gebietskommandeur für ihre mutigen, aber hilflosen Versuche, die Steinewerfer zur Räson zu bringen. Etliche von ihnen wurden bei ihrem Einsatz auch durch israelische Kugeln verletzt. Hassan ist gerade aus dem Krankenhaus gekommen. Er humpelt mit einem dick verbundenen Fuß über die Straße und zwingt sich zu einem Lächeln, als er sagt: „Ja, das waren die Israelis.“

Bei der eigenen Bevölkerung ist das Ansehen der palästinensischen Polizisten und Geheimdienstleute weniger groß. „Die nimmt hier keiner ernst“, sagt der 19jährige Amer. „Hier sind alle nur für Hamas.“ Sein gleichaltriger Cousin pflichtet ihm mit einem Kopfnicken bei. „Jeden Morgen“, sagt er, „bevor wir zur Schule oder zum College gehen, fliegen hier die Steine.“ Auf die Frage, ob Hamas die täglichen Demonstrationen organisiert und leitet, lächeln beide verlegen und zucken mit den Schultern. „Wir gehen jetzt zum Club“, sagt Amer. Und schon sind beide um die nächste Häuserecke verschwunden.

Auf dem breiten Balkon eines größeren Hauses im Suk steht ein Palästinenser. Auf dem Kopf trägt er eine auffällige, schwarze Pelzmütze. Seine kurze Kopfbewegung ist nur als Einladung zu verstehen. Eine Treppe führt direkt in den ersten Stock des Hauses. In der hintersten Ecke eines großen, aber leeren Zimmers steht ein Schreibtisch. Drumherum sitzen drei Männer und unterhalten sich. Hier residiert die Marktaufsicht von Hebron. „Wir kontrollieren die Waren“, sagt der Chef, „und prüfen, ob alles in Ordnung ist.“ Ein Türschild zu einem Nebenraum verrät, daß hier auch Arafats PLO-Organisation Al-Fatah ihren Sitz hat. „Nein, sagt der Chef, „dies ist ein Büro der Stadtverwaltung.“ Bereitwillig öffnet er die Tür zum Nebenraum. Zwei Tische und ein paar Stühle, ein eher karger Sitzungsraum.

Die Männer lassen keinen Zweifel daran, daß sie mit der jüdischen Siedlung mitten in der Altstadt alles andere als einverstanden sind. „Dies ist al-Khalil“, sagt einer und benutzt den arabischen Namen für Hebron. „Und ganz Khalil ist islamisch und gehört den Palästinensern. Darum werden wir kämpfen, egal wie lange es dauert.“

Aus Trauer um die drei am Dienstag getöteten Palästinenser sind alle arabischen Geschäfte bis heute geschlossen. Zwar herrscht keine offizielle Ausgangsperre, doch gleichwohl macht selbst das israelisch kontrollierte Viertel in Hebron, im Militärjargon H 2 genannt, einen ausgestorbenen Eindruck. Nur einige palästinensische Kinder spielen unter den Zeltdächern des Marktes vor den geschlossenen Eisentoren. Auch von den jüdischen Siedlern und den Jeshiva-Studenten läßt sich niemand blicken.

Auf den meterhohen Wachtürmen sitzen israelische Soldaten und verzehren ihr Abendessen. Sie geben sich gelassen, obwohl an ihren Gesichtern die Aufregung der vergangenen Tage ablesbar ist. Jusif, der direkt vor der Jeshiva- Schule Wache schiebt, ist 24 Jahre alt. Seit einem Monat macht er Dienst in Hebron. Fünf Monate muß er hierbleiben. „Sie wollen uns hier nicht haben“, sagt er. „Aber wir verteidigen das jüdische Leben in Hebron.“ Sein Kollege ist offensichtlich anderer Meinung, aber sagen will er nichts. Am Wachturm auf der Shuhada-Straße geben sich die Soldaten noch zugeknöpfter. „Wir dürfen mit niemandem über das sprechen, was hier passiert ist“, sagt einer. „Aber ich verrate wohl kein militärisches Geheimnis, wenn ich sage, daß ich so schnell wie möglich von hier weg will.“