: Schienen-Proteste sind erlaubt
Zwischenbilanz der Verhandlungen gegen Castor-Demonstranten. Die Mehrzahl der Angeklagten wurde bisher freigesprochen ■ Aus Hannover Jürgen Voges
„Die hier anhängigen Verfahren wegen der Castor-Aktionen auf den Gleisen in Dannenberg sind größtenteils nicht abgeschlossen“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Kiel und hält deswegen eine rechtliche Bewertung für noch nicht zulässig.
Das Amtsgericht in Bad Bramstedt, das über das dort ansässige Bundesgrenzschutzkommando an Bußgeldverfahren gegen gleich 50 Castor-Gegner geraten war, sah das am vergangenen Freitag in öffentlicher Verhandlung anders: Es legte einen ersten Bußgeldbescheid über 50 Mark, den der BGS wegen Demonstrierens auf den Gleisen verhängt hatte, zu den Akten und empfahl der Kieler Staatsanwaltschaft, auch die übrigen Bescheide zurückzunehmen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit stellte der zuständige Amtsrichter über die Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung, die das Betreten von Gleisanlagen untersagt. Schließlich könnte man sonst auch mit Hilfe der Straßenverkehrsordnung alle Versammlungen auf Straßen unterbinden.
Die 50 Bußgeldbescheide des BGS gehen auf die wendländische Kampagne „Keine Bahn zum Castor-Kran“ zurück, bei der zwischen September letzten Jahres und Februar dieses Jahres immer wieder Gruppen von AKW-Gegner zur „öffentliche Schienendemontage“ geschritten waren. Sie hatten die Gleise direkt vor der Dannenberger Umladestation angesägt oder dort Gleismuttern entfernt. Wegen der Kampagne des zivilen Ungehorsams sind bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg auch 100 regelrechte Strafverfahren anhängig, etwa wegen Sachbeschädigung oder gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr. Dabei wertet die Staatsanwaltschaft Lüneburg in zahlreichen Fällen bisher die bloße Anwesenheit am Ort des Geschehens als Beihilfe durch Ermutigung anderer Aktivisten.
Die der Schienendemontage Beschuldigten wollen sich in Lüneburg offensiv verteidigen, hatten sie doch auch öffentlich zum zivilen Ungehoram an den nur zum Castor-Transport genutzten Gleisen aufgerufen. Wenn es nach der bisherigen Bilanz aller Strafverfahren nach den Castor-Protesten im Wendland geht, stehen ihre Chancen nicht schlecht. Die kürzlich von Niedersachsens Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) dem Landtag vorgelegte Statistik der Castor-Verfahren zeichnet ein Bild vom Protest, das alle Gewalttätersprüche Lügen straft.
Vom 1. Januar 1995 bis zum 1. April 1997 hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg 1.404 Ermittlungsverfahren wegen der Anti- Castor-Aktionen im Wendland eingeleitet: Von den 383 Verfahren des Jahres 1995 führten nur 41 zum Erlaß eines Strafbefehls oder einer Anklageerhebung. 23 AKW- Gegner wurden vor Gericht anschließend freigesprochen, neun hatten eine Geldstrafe zu zahlen, bei weiteren neun sind die Verfahren noch nicht abgeschlossen. Aus den 881 Castor-Verfahren des Jahres 1996 resultierten 62 Strafbefehle und Anklagen, die bisher zu zehn Verurteilungen und sechs Freisprüchen führten. Nach Angaben des Landgerichts Lüneburg hatten die 19 Verurteilten nur niedrige Geldstrafen zu zahlen. Als höchste Strafe ist die Verurteilung eines jungen Mannes wegen Sachbeschädigung zu 20 Tagessätzen oder 600 Mark in Erinnerung.
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