Antennen zum Spirit

Sun Ra ist tot, aber die Arche lebt: Zwei Jünger verwalten das spirituelle Zentrum des Astro-Jazz-Erleuchteten in Philadelphia. Und improvisieren weiter im Sinne des Meisters. Zu Pfingsten kommt das Sun Ra Arkestra nach Moers  ■ Von Christian Broecking

Wenn James Jacson den Telefonhörer abnimmt, meldet er sich noch immer mit „The Residence of the Sun Ra Arkestra“. Vielleicht liegt es daran, daß Jacson vor 35 Jahren Frau und vier Kinder verließ, um Mitglied der Sun Ra Big Band, „Arkestra“ genannt, zu werden. Gelebt hat er seither in der Arche. „Das prägt“, sagt er selbst.

Marshall Allen, noch so ein Jünger, lebt mit seiner Familie zwar nicht in der Arche, aber nur wenige Häuser entfernt. In dem Haus in der Morton Street in Philadelphia, das Sun Ra Anfang der Siebziger erkor, seine „Arche“ zu sein, leben heute noch drei Mitglieder. Das Gebäude entspricht nicht unbedingt dem, was man mit einem biblischen Schiff verbindet. Klein, eng, nicht eben repräsentativ, hat es eindeutig bessere Tage gesehen.

„Er war der geborene Leader“, sagt Allen über Sun Ra, der gern abends auf der kleinen Veranda vor der Arche saß, von der Bühne aus aber mit Außerirdischen kommunizierte. Dafür trug er Antennen an seinem Hut. Sun Ra selbst war sich absolut darüber im klaren, ein Erleuchteter zu sein, eine Ausnahmeerscheinung im Jazz wie im Leben. Die Arkestra-Mitglieder spielten unter seiner strengen Leitung sehr frei. Sie rezitierten Poetry zu funky Beats – lange bevor dergleichen sich ganz gut vermarkten ließ. Nur eines hat Sun Ra, der 1993 im Alter von 79 starb, nie geregelt: seine Nachfolge. Und sein Testament.

Doch irgend jemand mußte die Sache ja in die Hand nehmen. Marshall Allen, Jahrgang 22, bildet mit seinem „Assistenten“ James Jacson, Jahrgang 32, das derzeitige Leadership des Sun Ra Arkestra. In Moers werden sie am Pfingstsonntag live zu sehen sein – die Arche lebt. Aber so einfach fällt das Führen nicht: „Sun Ra hat ja immer alles selbst gemacht“, meint Allen. „Die Kompositionen, das Geschäftliche, die Entscheidungen. Ich bin heute ausschließlich für die Musik verantwortlich und habe die anderen Aufgaben dem Mitglied Jacson übertragen. Wir diskutieren und treffen alle Entscheidungen, die für das Fortbestehen des Arkestras wichtig sind, gemeinsam.“

Entschieden werden müßte einiges – aber nicht jeder ist befugt. An die Mechanismen des Erbens scheint Sun Ra nicht gedacht zu haben, und spirituelle Nachfolge begründet kein bürgerliches Recht. „Eigentlich gehört alles seiner Familie“, erzählt Allen. „Da er selbst ja keine Familie gegründet hat, also seiner Schwester und ihrer Verwandtschaft.“

Zum Glück ist die Schwester, obwohl mit dem Werk gänzlich unvertraut, der neuen Führung wohlgesonnen. Allen: „Wir haben eine Stiftung gegründet, die das Ra- Erbe verwalten soll, wenn die Erbsache von den Gerichten freigegeben ist – und das dauert. Wir halten jedoch zusammen, was in die Arche gehört. Wir sitzen praktisch zwischen den Stühlen – Familie, Gerichte, Firma – und warten ab, was uns dann noch von Ras Erbe bleibt.“

Weniger glimpflich verliefen bislang die Verhandlungen mit der Schallplattenfirma Saturn Records beziehungsweise dessen Inhaber Alton Abraham, der – weil er Sun Ra Anfang der Fünfziger in Chicago spirituell wie finanziell unterstützt und überhaupt erst auf die Idee gebracht haben will, seinen bürgerlichen Namen (Herman „Sonny“ Blount) abzulegen und sich „Le Sony'r Ra“ zu nennen – den Namen des Meisters als sein Markenzeichen betrachtet. Er beansprucht die Rechte an allen Aufnahmen. „Wir wurden von ihm wie Sklaven behandelt“, erzählt Allen. Der Streit soll noch bei Ras Beerdigung zu einer Rangelei zwischen den beiden 70jährigen geführt haben, in deren Verlauf Allen mit dem Saxophon auf Abrahams Kopf eindrosch.

Warum hat Ra aber auch so wenig für seine Arche geregelt? Tantiemen haben die Musiker schon zu seinen Lebzeiten nicht erhalten, da Ra die ganzen Aufnahmen mit dem Arkestra ausschließlich unter seinem Namen vermarktete. Ein doch etwas eigentümlicher Umstand, zu dem Allen sich bedeckt hält: „Sun Ra hat sich um so etwas eben nie gekümmert. Wir können jetzt nur darauf hoffen, daß das Gericht zu unseren Gunsten entscheidet.“

Wer mit Marshall Allen spricht, spürt sofort: Die Arkestra-Mitgliedschaft ist eine Lebenshaltung. Da wird geschwärmt von einem Bohnen-Fleisch-Stew, den natürlich keiner so gut kochen konnte wie eben Sun Ra. Wehmütig erinnert man sich daran, daß Ra die Arche wie eine disziplinierte Armee führte, die im Spirit of humanity regelrecht trainiert wurde. Marshall Allen selbst hat einst Sun Ras Leadership und die Arbeits- und Lebensweisen in der Arche mit Zuständen verglichen, wie man sie beim Militär hat. „Sun Ra war ein Master. Er kannte die Menschen, mit denen er sich umgab, ganz genau. Und er wußte sie zu führen.“

Zum Führen gehörten auch subtile Strafen. Was für Außenstehende nach den Methoden von Sekten klingt, wird von Sun-Ra- Treuen als lebenslanger Lern- und Heilungsprozeß beschrieben. James Jacson sagt heute von sich, er sei ein schlechter Mensch gewesen – arrogant, aggressiv und egoistisch. Für unheimlich clever habe er sich gehalten, weil er immer viel las und alles rational anging. Der spirituelle Meister hingegen setzte auf Intuition. „Caught you thinking, Jacson“, soll Sun Ra immer wieder gesagt haben.

Als Jacson dann einmal eine Probe verpaßte, mußte er beim nächsten Konzert ohne Instrument auf der Bühne sitzen. Sun Ra erklärte dem Publikum, warum Jacson zwar anwesend sei, aber nicht spielen dürfe. Ganz schön hart. Aber irgendwann will Jacson sie auf diesem Wege kapiert haben, die Sun- Ra-Lektion.

Trotz Ras strenger Hand war es in den Jahren vor seinem Tod ruhig geworden um die Arche. Die meisten Mitglieder zogen in andere Städte, weil es zuwenig Auftritte gab, um das Arkestra am Leben zu halten. Allen berichtet, daß Ra in der Zeit vor seinem Tod sehr verbittert war. Er ließ ihn in tage- und nächtelanger Kleinarbeit seine Kompositionen Note für Note von alten Platten transkribieren, um schließlich alles in den Müll zu werfen. Er ließ ihn Michael-Jackson-Titel für das Arkestra bearbeiten, um sie dann für nicht gelungen zu befinden. Das alles macht für Allen aus heutiger Sicht nur den einen Sinn: Sun Ra wollte ihn beschäftigen. Die Message war: Weitermachen!

Weitermachen heißt zuallererst zusammenhalten. „Wir haben uns bemüht, das meiste, was sich nach Sun Ras Tod in der Arche befand, zu retten. Dennoch mußten wir einiges abgeben. Zum Beispiel eine große Anzahl Master-Tapes, die an das Saturn-Label gingen. Aber Ras Noten und Malereien, seine Bücher und einige Tapes sind in der Arche geblieben.“ Schwierig, ein Erbe zu bewahren, wenn außerhalb der Arche kein Bewußtsein existiert, daß hier etwas zu schützen sei. „Einiges ist auch einfach verschwunden“, resümiert Allen, „weil Leute es als Souvenir mitnahmen.“

Die Arche leidet heute an permanenter Geldnot. Die Leute, die darin wohnen und proben, sind arm – was die materiellen Dinge angeht. „Es ist wie überall, wenn man für seine Arbeit kein Geld bekommt“, sagt Allen, der, wie Jacson auch, von einer kleinen Staatsrente lebt; Jacson arbeitet gelegentlich noch in seinem Beruf als Zimmermann.

„Man muß eben alle erreichbaren Quellen auftun. Das kann manchmal ganz schön hart sein. Es ist tatsächlich so, daß kein Mitglied des Sun Ra Arkestras für die Arbeit, die in den Jahren mit Sun Ra produziert wurde, Geld bekommt. Deshalb bieten wir zur Zeit auch einen Mitschnitt unserer Konzerte im Kimball's East, die wir im August 1995 gaben, auf Kassetten an, die man über E-Mail anfordern kann.“ Sun Ra Arkestra requests that you kindly not duplicate these tapes haben sie draufgeschrieben – „damit möglichst viele diese Kassetten ordern. Aus dem geringen Erlös bestreiten wir die Stromkosten für die Arche und Transportkosten für das Arkestra.“

Am schwerwiegendsten aber ist das Problem der Weitergabe der Musik. Da Sun Ras Musik kaum notiert ist – wie der Kulturkanon des Abendlands – braucht es die Kenntnis und Erfahrung der jeweils überlebenden Arkestra-Mitglieder, um sein Werk wiederaufzuführen. Allen weiß heute von etwa 500 Sun-Ra-Kompositionen, von denen teilweise noch nicht mal Kassettenaufnahmen existieren. „Was immer dient, um Sun Ras Musik zu spielen, nutze ich. Ich bin jetzt das Medium, durch mich überlebt diese Musik.“

Ganz einfach ist auch das nicht, weil viele, die Allen für spirituell geeignet hält, in anderen Städten leben. Michael Ray etwa, der Trompeter, der erst unlängst ins Mutterschiff zurückkam, lebt in Chicago und hat selbst zahlreiche andere Projekte laufen. In Moers wird er am Pfingstmontag mit eigener Band auftreten.

Doch trotz allem ist die Botschaft für Allen die gleiche geblieben: „Sei ernsthaft, diszipliniert und konzentriert, probe hart, und spiele so, daß dein Publikum etwas bekommt, was einen inneren Wert hat. Der Leader ist ja nicht wirklich von uns gegangen, er wirkt durch uns weiter.“

Vielleicht ist er als Spirit nur nicht mehr ganz so streng wie als Zeitgenosse. „Er war ein großartiger Lehrer“, sagt Allen auch, „aber jetzt ist es an uns. Class is over.“