Kunst im Café Von Martin Sonneborn

Lange hatten die Geschwister Gneißl vom Wiener Café Donauwelle geschwärmt. Endlich haben wir es dann besucht: dunkles, kitschiges Interieur, viel Plüsch, Weihnachtsdekoration (im Juni) mit Patina, durchgesessene Sofas, alte Zeitungen auf dem Billardtisch, Plastikblumen, Plastiktischdecken.

Frau Maria, gute 80 Jahre alt, im 20er-Jahre-Abendkleid, weißen Netzhandschuhen bis zum Ellbogen und pelzgefütterten Hausschuhen, gibt hinter der langen Theke Bier aus. Auf Rat der Geschwister nehmen wir ein paar Flaschen mehr; als ich eine Zeitung anrühre, werde ich gemaßregelt: Frau Maria, die für den Rest des Abends die Theke schließt – wer jetzt kein Ottakringer hat, bekommt auch keines mehr! –, bedeutet mir, die Dekoration habe auf dem Tisch liegenzubleiben. Zudem solle man schweigen, Herr René müsse sich konzentrieren. Herr René springt in den Raum, schlecht sitzender Anzug, Perücke, singt zu einer rauschenden, völlig übersteuerten Kassette „Kunst im Café mit René, dazu noch Varieté“, schmeißt drei-, viermal seinen Zylinder in die Luft, fängt ihn graziös auf. René Taler, der berühmte, komme bis zum hohen A, kommentiert Frau Maria den Applaus der rund 30 Gäste, er habe nämlich Akrobatik, Nationaltanz und Steppgesang studiert.

Dann zieht sie ein antiquiertes Rhetorikbuch hervor: „Sie können es bringen bis zum Minister hinauf, wenn Sie Rhetorik können, wenn Sie eine Zuhörerschaft von 20 bis 30 Leute zwingen können, auf Sie zu sehen!“ Frau Maria läßt den Blick prüfend schweifen, ihre Stimme wird eindringlich. „Als Mensch, der einmal eine Rede halten will, muß man monatelang warten und alles aufschreiben, abends lesen. Und: Lexika jeden Tag zur Hand nehmen, das ist der gesündeste Roman für Sie. Immer mit Notizblatt, Assoziationen sind hurtig wie die Hasen.“ Dann schlägt sie ihr Lehrbuch auf: „Die Körperhaltung eines Redners ist immer dann einwandfrei, wenn sie nicht bemerkt wird, was nicht heißt, daß man stocksteif dastehen soll!“ Sie blickt auf. „Es gäbe noch viel dazu zu sagen.“ Und nach kurzer Pause: „Ein ununterbrochenes Wackeln des Kopfes ist geeignet, den Redner lächerlich zu machen. Auch eine geniehaft in die Stirn geworfene Locke läßt den Redner geckenhaft erscheinen.“

Die nächsten Absätze überfliegt sie: „Niemals der Zuhörerschaft die Zunge rausstrecken. Und Reden, die das Publikum überraschen, sind eher die Ausnahme. Auch kann man keine Rede halten in der Nacht, da sind die Menschen müde. Aber, Herrschaften, ich muß schließen, es wäre noch so wunderbar...“ Sie legt das Buch weg. „Und jetzt ein künstlerisch gespieltes Klavierspiel. Ich zeig' Ihnen, was ich so gelernt hab', nicht wahr? 30 Jahre Klassik studiert, und jetzt vergess' ich's wieder.“ René Taler geht ans Klavier, Frau Maria singt „Ave Maria“, „In mir klingt ein Lied...“ und die „Capri- Fischer“. Die Geschwister Gneißl, Opernspezialisten allesamt, bestätigen, daß Technik wie Töne annähernd stimmen. Mit geröteten Wangen verbeugt sich Frau Maria, geht summend ab, die Vorstellung ist aus.

Am nächsten Tag wird das Café Donauwelle geschlossen, Frau Maria nie wieder gesehen. Und auch nicht Herr Taler, René, der berühmte.