Auch die Türkei hat ihre „Watergate-Affäre“

■ Auf Geheiß der Innenministerin bespitzelte die Polizei den Generalstab

Istanbul (taz) – In den heiligen Räumen des türkischen Generalstabs leistete der Soldat Kadir Sarmusak seinen Militärdienst ab. Geheime Dokumente der Armeespitze versteckte er in seiner Uniform, um sie außerhalb des Militärgeländes einem Polizeikommissar zu übergeben. Über den obersten Chef des polizeilichen Nachrichtendienstes, der manchmal seinen V-Mann in der Armee persönlich anleitete, wanderten die Dokumente dann an die türkische Innenministerin.

Der Regierungsspitzel beim Militär flog auf, nachdem der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel beim Generalstabschef Ismail Hakki Karadayi mit den Geheimdokumenten aufwartete. Seit zwei Tagen sitzt Sarmusak, der kleine Held dieser türkischen „Watergate-Affäre“, im Militärgefängnis. Doch mit ihm wollen sich die Militärstaatsanwälte nicht zufriedengeben, nachdem öffentlich geworden ist, daß die Regierung den Polizeiapparat einsetzte, um die Armee zu bespitzeln. Am liebsten würden die Militärs die ehemalige Innenministerin Meral Aksener und ihre Vordenkerin, Exaußenministerin Tansu Çiller, hinter Schloß und Riegel sehen.

Zielscheibe war zuerst der Leiter der Büros Nachrichtendienst beim Innenministerium, Bülent Orakoglu, der seine Aktivitäten für gesetzesmäßig erklärte und sich verteidigte: „Die Mafia hatte sich in der Armee eingenistet.“ Seine ehemalige Vorgesetzte, Exinnenministerin Meral Aksener, stellte sich hinter den Topbürokraten und ging zum Angriff über. Gegen einen „potentiellen Putsch“ sei der Polizeiapparat aktiv geworden und habe eine „Heldentat“ in der Demokratiegeschichte der Türkei vollbracht. Die innerhalb der Armee gegründete „Arbeitsgruppe Westen“ – der Generalstab hatte die Existenz einer solchen geheimdienstlichen Einheit zwecks nachrichtendienstlicher Erfassung „fundamentalistischer Strömungen“ bekanntgegeben – sei in illegale Aktivitäten verwickelt.

Der Generalstab reagierte mit einer Presserklärung, die einer Kriegserklärung gleichkam: Das Polizeigesetz ermächtige nicht dazu, „Akten zu stehlen“. Aksener sei von „einigen Personen und Kräften gesteuert“ – ein indirekter Verweis auf Tansu Çiller. Die Darstellung der Exinnenministerin sei „purer Unsinn“, kommentierte der Oberkommandierende der Gendarmerie, Teoman Koman. „Verrückte“ würden daherreden, um das „Vertrauen der Nation in den Staat zu erschüttern“. Und der neue türkische Innenminister Murat Basesgioglu, der wegen der Vorfälle Ermittlungen eingeleitet hat, erklärte seine Vorgängerin Aksener schlicht für „unzurechnungsfähig“.

Der von Basesgioglu des Amtes enthobene Polizeibürokrat Orakoglu hatte vor mehreren Monaten eine Warnung in Richtung Generalstab ausgestoßen. Der damals namentlich nicht genannte „hohe Polizeifunktionär“ gab einen Wink mit dem Zaunpfahl: „Es ist nicht mehr einfach, einen Putsch in der Türkei durchzuführen, weil 170.000 bewaffnete Polizeikräfte vorhanden sind.“ Ein Putsch sei nur in Kooperation mit der Polizei denkbar und nicht gegen sie. Die Schlammschlacht zwischen Polizei- und Armeeapparat, an welcher sich Topbürokraten der Polizei ebenso wie die Generäle beteiligen, hat ihre guten Gründe. Um der allmächtigen Armee Paroli zu bieten, hat Tansu Çiller als Ministerpräsidentin und später als stellvertretende Ministerpräsidentin der Regierung Erbakan versucht, einen ihr treu ergebenen Nachrichtendienst innerhalb des Polizei aufzubauen. Nachdem Çiller von der Macht gedrängt wurde, rächen sich die Generäle, während Çiller und ihre Vertraute Aksener damit drohen, mit belastendem Material gegen die Armee vorzugehen. Daß Çiller auf der Verliererseite ist, steht heute schon fest. Sie kann sich glücklich schätzen, wenn sie der Anklagebank entgeht.

Doch solange die Schlammschlacht zwischen beiden Parteien andauert, werden weiterhin Informationen darüber publik, in welchem Maße sowohl die Armee als auch die von den Politikern gesteuerte Polizei in kriminelle Machenschaften – inklusive politische Morde und Heroinhandel – verwickelt waren. Einer der Kronzeugen ist der hohe Polizeifunktionär Hanefi Avci, der um den Preis der Suspendierung vom Dienst auspackte. Seine Bilanz: „Wir sind in einem politischen Konflikt mißbraucht worden.“ Ömer Erzeren