Nationalismus und Patriotismus sind für viele Pakistani abstrakte Begriffe

■ Pakistans Regierung feierte schon gestern sich und die Unabhängigkeit. Es wächst ein Bewußtsein für Bürgerrechte

Vor 50 Jahren, eine Minute nach Mitternacht, wurden Millionen Menschen auseinander- und ein ganzer Kontinent in zwei Teile gerissen: Indien und Pakistan. Gestern früh zur selben Zeit verkündete Premier Nawaz Sharif vor dem Parlament, Pakistan habe erreicht, daß es nicht mehr zu erobern sei. Die Nachricht, daß ein von Hunger, Analphabetismus und hohen Schulden betroffenes Land unbesiegbar ist, wäre wohl wirklich ein Grund zum Feiern.

Aber die Regierung in Islamabad ist gerade wieder mit einer Welle der Gewalt konfrontiert. Am Tag vor dem Jubiläum hatte sie das Antiterrorgesetz durchs Parlament gebracht, mit dem sie die in den letzten Wochen eskalierte Gewalt zwischen sunnitischen und schiitischen Extremisten in den Griff bekommen will. Das Gesetz gibt den Sicherheitskräften die Vollmacht, ohne Vorwarnung zu schießen. Menschenrechtsorganisationen bezeichnen es als „Lizenz zum Töten“. Das Gesetz hat gestern für viele Pakistani die Feststimmung gedämpft.

Sharif forderte gestern Indien auf, die Gespräche über die umstrittene Kaschmir-Region wiederaufzunehmen. Er hoffe auf friedliche Beziehungen mit Indien, betonte aber, daß Pakistan bei Kaschmir nicht nachgeben werde. „Unsere Unabhängigkeit wird erst vollendet sein, wenn das Volk von Kaschmir mit uns vereint ist“, so Sharif. Ein für gestern geplanter Marsch an die indische Grenze, den um Entspannung bemühte Organisationen durchführen wollten, wurde verboten.

Die offiziellen Feiern wurden mit routiniertem Patriotismus abgespult: tausendfaches Hissen der Nationalfahne, Besuche an den Gräbern der Nationalhelden und Ehrung der Kriegstoten – Pakistans 50. Geburtstag wurde größtenteils in Uniform gefeiert. Soldaten marschierten, Schulkinder sangen die Hymne und bekamen dafür Süßigkeiten.

Das Wort Pakistan ist schon seit Tagen hundertmal zu hören. Fernseher, Radios und Musikläden dröhnen vor patriotischen Rhythmen. Die Märkte sind voller Stände, die mit der weiß-grünen Nationalflagge mit dem Halbmond geschmückt sind. An den Ampeln kleben Jungen Aufkleber mit der Fahne auf die Windschutzscheiben und halten danach die Hand auf: „Zwei Rupies!“ Die Jiye Sindh Qaum Parast, eine kleine ethnisch- nationalistische Partei, hat den Jahrestag zum Trauertag erklärt. Denn ihrer Meinung nach sind die Bewohner der Provinz Sind mit der Gründung Pakistans zu Bürgern zweiter Klasse geworden.

Viele haben den 50. Geburtstag schlafend gefeiert, darunter auch Aktivisten, die sonst bereit sind, ihr Leben für kleine Sachen zu opfern. Atif Siddiqui, der Poteste organisiert hat, als für ein großes Werbeschild zwölf Bäume gefällt wurden, sagt: „Ich habe heute nacht geschlafen, was denn sonst?“

Es gibt zwei Pakistans. Das eine ist das illusorische, das der Staat durch Symbole und Rituale fördert. Das andere ist das wirkliche, wo viele Menschen alten Bräuchen verhaftet sind. Für sie sind Nationalismus und Patriotismus abstrakte Konzepte. Im realen Pakistan sind 90 der 137 Millionen Einwohner Analphabeten, 36 Mio. leben unterhalb der Armutsgrenze. 66 Mio. haben keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung. Jedes Jahr sterben 400.000 Kinder und 150.000 gebärende Mütter.

Salma Waheed, die bei einer Frauenorganisation arbeitet, sieht einen Silberstreif am Horizont. „Das Bewußtsein im Hinblick auf die Bürgerrechte ist gewachsen, Menschenrechtsverletzungen werden jetzt zumindest bemerkt.“ Nafisa Shah, Karachi