: Kindchen, ich mach' das mit Liebe
Inge Schulz schmiert Brötchen und Stullen für Prostituierte und Trinker und fährt damit durch Berlin. Jede Nacht. Freiwillig. Von Kneipe zu Kneipe. Schlafen könnte sie nicht ■ Aus Berlin Jens Rübsam
Es ist dunkel. Es regnet.
In der Pension Clausewitz, im vornehmeren Teil des Berliner Bezirks Charlottenburg, sitzen um halb elf drei Frauen gelangweilt an der Bar; eine mit einer roten Strähne im blonden Haar, eine mit fränkischem Dialekt und eine, die man Ela nennt. Ela, so ist zu vermuten, ist die Chefin der Lokalität, manche sagen Edelpuff zu der Pension Clausewitz, was, allein von außen betrachtet, stimmen mag: ein feines Haus, weiß verputzt, eine schwere Holztür mit schwerer Klinke; „Clausewitz“, der Pensionsname, prangt neonrot an der Fensterscheibe im Parterre, die Jalousien sind heruntergezogen. Ela also, eine hübsche Frau mit enger Bluse und tiefem Ausschnitt und kurzem Rock, könnte die Chefin sein, weil sie ans Telefon geht, wenn es klingelt, und weil sie, so scheint es, die älteste ist von den dreien. Aber das weiß man nicht so genau. Was man weiß: Ela ist auf Diät. Hinter der Bar steht ein Plastikteller mit Salat: rote Bete, geraspelte Möhren, grüne Blätter, Schonkost für eine lange Nacht.
„Schon gut, Kinderchen. Ich war auch auf Diät“
„Is' schon gut, Kindchen“, seufzt Inge Schulze, 57, die soeben hereingekommen ist, das Tablett mit den „leckeren Schrippchen und Stüllchen“ auf den Tresen gestellt und sich eine Zigarette angezündet hat. „Is' schon gut, Kindchen. Auch ich war früher mal auf Diät.“ Seit sie damit aufgehört hat, geht es ihr besser, „aber seitdem kann ich Konfektionsgröße 42 vergessen“.
„Mutti“, sagt Ela, „nächste Woche kaufe ich dir wieder was ab“, während die Blonde mit der roten Strähne im Brötchenberg kramt. Um halb elf ist in der Pension Clausewitz nicht viel los. Schmusesongs von RTL, schwere Ledersessel, die Männer fehlen. Der Edelpuff ist erst acht Wochen geöffnet. „Wir sind noch nicht so bekannt“, meint Ela – und Mutti schwatzt derweil drauflos. Erzählt von ihrem „scharfen“ Auto, das sie sich geleistet hat. Ein kleiner Fiat, der nur einen Nachteil hat: die Kupplung. Ihr alter hatte eine Automatik. Inge Schulze packt das Tablett, bringt die Brötchen wieder in Schulzsche Ordnung – rechts Tomate, dann Ei, dann Bierschinken mit Kapern, Salami und Käse; stapelt auch die Stullen – links Gehacktes, dann Tomate, dann Hähnchenbrustfilet – und geht. „Bis morgen, meine Kinderchen.“
In Berlin regnet es noch immer.
Mutti zwängt sich in den blauen Fiat, rückt die Schleife im Haar zurecht und fährt Richtung Neukölln. Manchmal vergißt sie, das Licht einzuschalten. Manchmal, daß man bei Rot nicht über die Kreuzung fahren darf. Und manchmal, welches Bordell oder welche Kneipe sie nun anfahren soll. Aber nachts in Berlin ist vieles egal. Und Mutti guckt nicht auf die Kilometer und nicht aufs Geld.
Neukölln, einer der heruntergekommenen Berliner Bezirke. Vor dem „Café Dreieck“ hockt ein Mann und plantscht in einer Pfütze. Mutti hält an.
Mutti, fast alle nennen Inge Schulze Mutti, nur Christian, der Wirt vom Café Dreieck, einer düsteren Lokalität, die, auch bei Licht betrachtet, nichts gemein hat mit einem Café, sagt etwas unbeholfen Muttschen. Daß Mutti oder Muttschen Inge Schulze heißt, weiß kaum jemand.
Wie es gekommen ist, daß Mutti die Damen in den Bordellen und die Trinker in den Kneipen mit Stullen versorgt – „lecker, schön und reichlich belegt“ –, bleibt unklar; sie selbst weiß es nicht genau zu sagen. Sie war mal, erklärt sie, in jungen Jahren Fleischermamsell, „das ist, wenn du Wurst und Fleisch lernst“. Dann war sie Aushilfe im Kaufhaus des Westens, „da wollte man mich behalten“. Dann hatte sie eine Wirtschaft. Und dann einen Imbißstand in einem Supermarkt. Zwischendurch war sie in der Türkei. Sie wollte nur Urlaub machen, drei Monate. Doch sie blieb länger, es wurden zwei Jahre, und sie wurde alsbald nur noch Madame Pamokale genannt, weil das Dorf, wo sie geblieben war, Pamokale hieß und alle sie „liebten“ und „vergötterten“, „ich war der Mittelpunkt“. Was ihr nicht unangenehm war, kam sie doch aus einem der traurigsten Berliner Bezirke, dem Wedding, war ihr Mann doch gestorben, an Krebs, fühlte sie sich doch zu jung, um im Wedding zu versauern, wo die Frauen schon früh um acht in die Kneipe gehen. Als das Geld ausging, kam sie zurück mit dem Vorsatz: drei Monate arbeiten in Berlin, drei Monate Urlaub in der Türkei.
Doch dann kamen die Katzen. Erst Fanny, eine schwarze mit weißen Pfötchen, „es war eine Wunschkatze“. Dann Angie, gefunden in einer Reisetasche, „ich guckte sie an und nahm sie mit“. Sechs Wochen hat Fanny nicht mit Mutti geredet. Dann lernte Inge Dieter kennen, seine Frau war gestorben, er brachte Linni mit, „total verfilzt und mit solchen Klumpen“ – Mutti formt ihre fleischige Hand, ein Tennisball könnte hineinpassen. Mit Dieter kamen noch Pascha und Sascha. Und etwas später, irgendwie, Charly und Jascha. Auf einmal hatte sie sieben Katzenklos und sieben Kratzbäume in der Wohnung stehen und keine Zeit mehr, in die Türkei zu fahren.
Neukölln, Café Dreieck. Der Mann am Straßenrand ist aufgestanden, tritt aber noch immer in der Pfütze herum.
Inge Schulze schwingt sich aus dem Auto, hinein ins „Dreieck“ – „Guten Morgen, meine Kinderchen.“ Im „Dreieck“ an der Bar hängen zwei Männer ab und eine Frau. Christian, der Wirt, strahlt: „Muttschen ist immer gut drauf. Wenn sie kommt, wird's lustig.“ Lustig ist nötig. Im Café Dreieck wird durchgehend gesoffen, laufen die öligsten Rockballaden, steht die Luft. Von einer, die immer vorn am Tresen sitzt, wird Mutti schief angesehen, „irgendwie kann die mich nicht leiden“. Aber das macht ihr nichts aus. Sie trompetet ihren Spruch in die dunstgeschwängerte Lokalität: „Wer Happahappa macht, kann schön Trinkerchen machen“ – und tänzelt aus dem „Dreieck“ hinaus ins dunkle Neukölln: „Ei sink ju werri matsch.“ Die nächsten Kinderchen warten.
Der Pfützenplantscher ist weg. Ein paar Meter weiter schleppt sich eine Frau mittleren Alters über den Fußgängerstreifen. Mutti bremst. Die Frau hat gerade beschlossen, ungefähr auf der Mitte, umzudrehen. Berlin bei Nacht.
Ihre Kinderchen, das sind die Neuköllner Prostituierten im „Club Happy End“, in der „Pigalle Bar“, in „Nummer 203“, in „Nummer 73“, in „Utes Nachtbar“ oder in dem Club, dessen Namen man nicht so richtig weiß. Meist sind es Mädchen, nicht älter als gerade erlaubt. Meist Türkinnen, Thailänderinnen und Frauen aus Osteuropa. Und weil das so ist, hat Mutti einen Reim darauf: „Lerne lieber Russisch, dann bleibst du nicht dußlig.“
Im Club, dessen Namen man nicht so richtig weiß, ist es wie in den anderen Neuköllner Clubs. Die Mädels halten Stellung in einer Couchgarnitur; meist sind die in Schmuddelbraun gehalten und füllen den Empfangsraum restlos aus. Es riecht ein wenig unangenehm. Die Mädels trotzen der Zeit mit Zigaretten und Cola und hoffen, daß einer kommt, der ihnen Besseres spendiert. Im Club, dessen Namen man nicht weiß, spricht nur Daniela, eine Türkin, deutsch. Daniela ist Muttis Liebling. Sie schmeichelt ihr: „Wenn Mutti mal nicht kommt, fehlt mir richtig was.“ Mutti strahlt. Es ist das erste Lob, das sie in dieser Nacht bekommt. Vorhin hat jemand gesagt – Mutti war gerade mit ihrem Tablett aus dem Raum: „Sie ist so lästig wie ein Rosenverkäufer.“
„Sind auch nur Mädels, die ihren Job machen“
Für Daniela ist sie es nicht. Vielmehr ist Mutti eine, die man mal in den Arm nehmen kann, die Essen bringt und darauf achtet, daß nichts mit Schwein dabei ist. Das hat Mutti gelernt. Stullen belegen ohne Schweinefleisch, „wegen den vielen Ausländern“. Statt dessen gibt's welche mit Hähnchenbrustfilet. „Man vertraut mir“, freut sie sich und wird im nächsten Moment richtig böse. Die junge Dame auf der Couch neben Daniela ist dabei, die Schulzsche Tablettordnung durcheinanderzubringen. Tatscht auf die Stullen, hebt sie an. Nein, so geht das nicht. Mutti legt ihre Hand auf die der jungen Dame, die nicht so recht weiß, was das bedeuten soll. „Schätzchen“, sagt sie, „ich mache das mit Liebe, und du tatschst drauf rum.“ Die Dame grinst, sie versteht nicht. Sie kauft zwei Brote. Daniela kriegt zum Abschied ein Küßchen.
Später wird Mutti sagen: „Das sind auch nur Mädels, die ihren Job machen. Das machen sie doch nur, weil sie in ihrem Land nicht viel verdienen und weil es dort nichts zu essen gibt.“ Aber eigentlich will sie nicht über ihre Kinderchen nachdenken.
Inge Schulze ist überzeugt, Gutes zu tun, von abends zehn bis morgens acht, sieben Tage in der Woche. Schrippen schmieren und verkaufen – nötig hätte sie es nicht, „ich krieg' ja 'ne gute Rente“. Aber was ist schon Geld? Was ist zu Hause sitzen? Vielleicht noch auf die Enkel aufpassen? Auf die Katzen? „Nein“, platzt es aus Inge Schulze heraus. Sie sei keine, die in ihren eigenen Wänden sitzt und abwartet, was der Tag bringt. Sie braucht Kinderchen und Schätzchen um sich. Und wenn die nicht kommen, kommt sie eben zu ihnen – mit Schrippen und Stullen.
Es ist Tag geworden. Es hat aufgehört zu regnen.
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