Ornament als Glücksfall

■ Die verzweifelten Versuche eines kartoffelförmigen Wesens, seine Augen wiederzubekommen. Chris Wares Comics aus der ACME Novelty Library sind legitime Nachfolger von Little Nemo

Ein Comic ist ein Comicbuch, ein Heft, ein One-pager oder ein Strip. Was aber haben in Chris Wares Comics die Bastelanleitung für ein „Nouveau ThéÛtre Magique d'Acme“ oder eine Anzeige der „School of the Presindeny“ zu suchen?

Der 1967 geborene, in Chicago lebende Chris Ware schert sich keinen Deut um ein typisches Erscheinungsbild. Die bisherigen in den USA erschienenen 7 Hefte seiner ACME Novelty Library wechseln ständig das Format, das Figurenset, die graphische Gestaltung. Im verdienstvollen Comicmagazin Strapazin 48 ist nun – ohne die Schwierigkeiten der Mail-order – eine der brillantesten Geschichten nachzulesen. Die Hauptperson von „Chattanooga choo choo“ ist ein kartoffelförmiges Wesen mit Armen, Beinen, Penis und Augen. Letztere verliert es aber und stiehlt sich welche von einem Schneemann, mit denen er aber nicht sehen kann. Die Melancholie der verzweifelten Versuche, die Augen wiederzubekommen, findet sich so nur in frühen Chaplin-Filmen. Als dann per Post endlich ein Paket mit neuen Augen kommt, fällt unbemerkt eine Schere aus dem Briefkasten...

Die graphische Verspieltheit der Seiten ist nahezu unfaßbar. Da wird in die Mitte einer Seite jenes Haus, das die Figur gerade verläßt, als Bastelvorlage mit Falzrändern gezeichnet. Nicht nur die einzelne Seite, sondern auch das Heft als solches löst Ware immer wieder auf. Im hochformatigen, schwarzweißen 3. Heft ist ein querformatiges, farbiges Insert eingeheftet. In einer zweiten Auflage bittet er, diese Ausgabe zu kaufen, obwohl es nicht die (wertvollere) Erstauflage ist. Oder er bietet an, aus einer Figurenfolge ein Daumenkino zu basteln, wofür wiederum das Heft zerschnitten werden müßte. Solches ornamentales Auflösen der Form ist für Ligne-claire-Comic- Puristen natürlich ein Verbrechen: Kunstwichserei. Wer aber genau – und durchaus mit Spaß – hinschaut, der findet in Ware eine legitime Fortsetzung der graphischen Entdeckungen von Winsor McCays „Little Nemo“ oder Herrimans „Krazy Kat“. Der Comic ist nach ACME Novelty Libary ein anderer – wieder einmal. Martin Zeyn

ACME Novelty Library, Fantagraphics Books zwischen 3,95 und 6,95 Dollar, „Strapazin Nr. 48“, München 1997, 10 DM