: Höchstens ein winziges Brennen
■ Es gibt einen Adoleszenzroman nach Salinger und Bret Easton Ellis: Paulus Hochgatterer schickt in „Wildwasser“ einen verlorenen Sohn durch die österreichische Provinz
Was tut ein erst relativ kürzlich seiner männlichen Hauptbezugsperson beraubter Sechzehnjähriger, dessen Mutter ihm klar macht, er sei gerade nicht erwünscht? Und zwar, weil sie mit seiner Schwester deren erste Menstruation mit einem Glas roter Flüssigkeit (Campari Soda) ungestört begießen möchte? – Klar, er haut ab – den Spuren seines vor eineinhalb Jahren höchstwahrscheinlich beim Wildwasserpaddeln in der Enns ertrunkenen Vaters folgend.
Jakob Schmalfuß, ein Sechzehnjähriger mit durchaus sympathischen Zügen („Schumacher war also draußen – das Beste, das in einem Formel-1-Rennen überhaupt passieren kann“), macht sich also auf den Weg. Er ist ausgestattet mit der Ausrüstung der Mittelschichtskinder von heute – teures Mountainbike, Shimano-Schuhe, Killerloop-Sonnenbrille etc. – und einigen Päckchen einer euphorisierend-aufputschenden Drogenmischung. Das kann entweder hoch her oder nicht gut gehen.
Zum Glück ist aber weder juveniler Markenfetischismus noch Pro- oder Anti-Drogen-Propaganda Hochgatterers Thema. Die Mixtur jedenfalls wirkt. Ein sich anbahnender Dauersteifer wird mit Hilfe eines erstandenen Pornoheftes durch Onanieren in freier Natur kurzfristig runtergebracht. Die Fahrt geht mit entblößtem Oberkörper weiter. Dann noch zwei Bier rein, und das war zuviel: Unser jugendlicher Held wird, nachdem er irgendwo zusammengebrochen ist, mit schwersten Sonnenbrandschädigungen – es ist heiß, und dann noch die Tabletten- Drogen-Mischung – von einem Kaplan aufgelesen.
Das ist keine ganz so tolle Idee, und im Priesterhaushalt eine leicht gestörte junge Dame auftreten zu lassen, die sich immer mit der Faust an die Stirn schlägt, wenn sie das Kreuz schlagen soll, ergibt ja auch ein eher abgegriffenes Bild. Aber, oh Wunder – die Gliederung der Erzählung in sechs Kapitel folgt übrigens der Liturgie vom Kyrie bis zum Requiem –, es geht gut.
Alle wertvollen Texte mit einem jugendlichen Ich-Erzähler bewegen sich gewissermaßen zwischem dem Charme J. D. Salingers und der Kühle des jungen Bret Easton Ellis. Anders gesagt, im allgemeinen stammen sie eher aus dem anglo-amerikanischen als dem deutschen Sprachraum. Um so erfreulicher, wie hier ein Österreicher unter souveränem Moralverzicht seinen Helden sich in der Provinz seines Heimatlandes verlieren und anderes finden läßt. „Ein Aufglühen unter dem Eis, ein heißes Auge, von dem sich langsam die Lider heben, ein roter Knopf schmilzt sich frei, in Erwartung des Fingers, der sich da auf ihn senkt, zart und luftig wie ein Pappelsamen, und noch deutet nichts auf einen dramatischen Wandel der Dinge hin. Höchstens ein winziges Brennen, vielleicht die kleine Euphorie, nachdem man mit einem blanken Draht kurz in der Steckdose gestochert hat.“
Der Autor ist übrigens Kinderpsychiater und „Wildwasser“ ist seine dritte – vom Umgang her schmalste – literarische Veröffentlichung. Marco Stahlhut
Paulus Hochgatterer: „Wildwasser“. Wien/München 1997 (Deuticke), 111 Seiten, 27 DM
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