EU berät die Verschiebung der Grenzen

Die Europäische Union will an diesem Wochenende die Beitrittskandidaten benennen – und ringt wieder einmal um das Verhältnis zur Türkei. Auch die anderen Wartenden sollen nicht allzusehr enttäuscht werden  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Den Erfolg des EU-Gipfels wird man auf dem Teller des Luxemburger Regierungschefs Jean-Claude Juncker ablesen können. Wenn er am Samstag abend nur mit seinem Außenminister und dem EU-Kommissionspräsidenten Jacques Santer am Tisch sitzen sollte, dürfte sich sein Appetit in Grenzen halten. Dann hat nämlich der türkische Ministerpräsident Mehsut Yilmaz die Einladung ausgeschlagen und der Gipfel war ein Desaster.

Acht Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer wollen die 15 Staats- und Regierungschefs der EU heute und morgen in Luxemburg den Masterplan für die künftige Ordnung Europas entwerfen. Dem Verhältnis zur Türkei kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Zwölf Länder wollen in die EU aufgenommen werden. Doch die Europäische Union, die jedem der Kandidaten mindestens einmal die Aufnahme grundsätzlich zugesagt hat, fühlt sich überfordert. Nur Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Estland haben nach Einschätzung der EU-Kommission zudem eine echte Chance, in absehbarer Zeit politisch und wirtschaftlich reif für die EU zu sein. An diesem Wochenende soll nun beschlossen werden, am 31. März nächsten Jahres mit diesen fünf Ländern plus Zypern konkrete Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Im Jahr 2002 oder 2003 ist mit ersten Beitritten zu rechnen.

Zypern wurde auf Druck der griechischen Regierung in den Favoritenkreis aufgenommen, wird aber im Laufe der mehrjährigen Verhandlungen voraussichtlich den Anschluß verlieren. Um beitrittsfähig zu sein, müßte Zypern die Teilung überwinden.

Seit Monaten streiten die EU- Regierungen, wie sie mit den Ländern umgehen sollen, die sie vorerst draußen halten wollen. Von der Gefahr des Abweisungsschocks ist die Rede und von der Notwendigkeit, die Moral der Kandidaten nicht zu brechen. Manche EU-Diplomaten fürchten offensichtlich, daß sich Rumänen oder Bulgaren wieder einen kommunistischen Geheimdienst wünschen, wenn sie nicht sofort in die EU aufgenommen werden. Dabei gibt es auch in den dortigen Regierungen Leute, die die Probleme einer schnellen Eingliederung in die EU richtig einschätzen können.

Rund 60.000 Regelungen umfaßt der aktuelle Bestand der EU- Gesetzgebung, von Umweltnormen für Großfeuerungsanlagen bis zur Rezeptur von Himbeermarmelade. Sie alle müssen in nationalen Gesetzen verankert, die Wirtschaft umgestellt werden. Allein die bloße Durchsicht, welche nationalen Gesetze verändert werden müssen, dauert acht bis zwölf Monate.

Die Osterweiterung wird die EU dramatisch verändern. Die Subventionspolitik in der Landwirtschaft ist nicht einmal auf Polen übertragbar, jedenfalls nicht zu vernünftigen Kosten. Die Strukturhilfen für wirtschaftlich schwächere Regionen werden zwangsläufig mehr nach Osten als wie bisher nach Süden fließen. Und ohne eine Einschränkung des Vetorechts im Ministerrat wird der ganze Laden bei 20 oder mehr Mitgliedern beschlußunfähig.

Auch wenn diese Probleme in Luxemburg ausgeklammert werden, um sie später zu lösen, wenn es nicht mehr anders geht: Die EU- Regierungen können an den Fingern abzählen, wer verlieren wird. Spanien und Portugal etwa haben bereits Garantien gefordert, daß bei ihren Strukturhilfen aus Brüssel nicht gekürzt werden darf.

Doch nicht nur diese beiden Länder bemühen sich, die Osterweiterung möglichst aufzuschieben. Während Bundeskanzler Kohl vorne den Beitritt Polens als historische Chance und Stärkung der europäischen Stabilität preist, schraubt hinten sein Agrarminister die Hürden hoch, um seinen Bauern die polnische Konkurrenz vom Leib zu halten.

Kompliziert wird die Sache dadurch, daß die kleinlichen Interessen nach außen stets als hehre Ziele verkauft werden. Dänemark beispielsweise, das vor allem die Handelsbeziehungen mit Lettland und Litauen im Auge hat, fordert deshalb, mit allen Kandidaten über den Beitritt zu verhandeln. Das gefällt auch Spanien, weil dadurch eine rasche Osterweiterung unwahrscheinlich wird. Selbst die Türkei, die kaum eine Regierung wirklich dabeihaben will, hat plötzlich viele Fürsprecher. Das fällt um so leichter, als das griechische Veto feststeht und Bonn bei einem türkischen Beitritt millionenfache Familienzusammenführung in Deutschland befürchtet.

In Luxemburg wird deshalb ein schwer durchschaubares Netz regelmäßiger Ministertreffen gespannt werden. Eine Europakonferenz, bei der alle Kandidaten dabei sind, eine Erweiterungskonferenz, bei der alle außer der Türkei dabeisein dürfen und daneben die Verhandlungen mit den fünf ernsthaften Kandidaten plus Zypern. Alle werden sie an diesem Wochenende fein dosierte Beitrittsversprechen für die Zukunft erhalten, am feinsten dosiert die Türkei.

Doch die türkische Regierung hat bereits wissen lassen, daß sie mindestens so behandelt werden will wie Bulgarien, was schwierig wird, weil Dänemark Bulgarien im Verein mit Lettland so behandelt sehen möchte wie Polen. Ohne konkrete Zusage will der türkische Regierungschef nicht nur die Europakonferenz boykottieren. Auch Jean-Claude Juncker muß dann alleine essen.