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Rebell von Zimmer 132

Emil Ehrath, 89, protestiert – gegen den Stellenabbau auf der Pflegestation und gegen das Stillhalten überhaupt  ■ Aus Stuttgart Christian Litz

Auf der Tür seines Zimmers im Altenheim klebt außen ein schwarzes Plakat. Auf dem schreien große, weiße Buchstaben: „Der ist zu allem fähig!!!“ Emil Ehrath sitzt drinnen in dem hellgelb tapezierten Raum mit der Nummer 132 in seinem Rollstuhl und wirkt gar nicht so. „Das haben die Betreuer aufgehängt“, sagt er stolz. Er erzählt nicht, daß die es hingeklebt haben, weil er sie darum bat. Emil Ehrath ist 89 Jahre alt und im Hungerstreik. „Ich will ein Zeichen setzen gegen den Sozialabbau aus Bonn“, sagt er. „Ich kämpfe.“ Er weiß, daß sein Kampf nichts bewirken, sein Protest nicht für mehr Personal im Pflegebereich des Heims sorgen wird. Aber Emil Ehrath kann sich sagen: Ich werde beachtet. Hier sitzt ein Mann, der es wenigstens versucht haben will.

Emil Ehrath kämpft um seine Würde. Sie ist ein seltenes Gut in einer Pflegeeinrichtung, in der in drei Jahren neun Stellen gestrichen wurden. Würde in Form eines Gesprächs mit Pflegepersonal, das Tempo zu machen hat, so etwas muß hier erkämpft werden.

Sein Alter ist Erath anzusehen und anzuhören. Er spricht leise, mit rauher Stimme, die ganze Zeit über ist da ein Nebengeräusch zu hören. Sein künstliches Gebiß knirscht bei jeder Silbe hinten im Rachen. Seine rechte Hand ist fast gelähmt, die Finger sind gekrümmt. Die linke kommt ab und zu langsam hoch aus seinem Schoß und sorgt für einen seltsamen Effekt: Die Gestik des Mannes hinkt seinen Worten weit hinterher. Die Riesenbrille hängt auf der Nasenspitze, er schiebt sie nur selten hoch, weil das anstrengend ist. Er hat eine Jogginghose an, weiße Badeschlappen, ein Hemd mit einem grauen Pullover darüber.

Der Raum, inklusive Naßzelle etwa zwölf Quadratmeter groß, riecht nach Urin. Auf dem Teppichboden liegen Zettel, Zeitungen, Kopien. Das Fensterbrett steht voller Blumenkübel. Hier, im Altenwohnheim der Hans-Rehn- Stiftung in Stuttgarter-Rohr, lebt Ehrath seit acht Jahren. Das Heim liegt am Rand des dörflichen Stuttgarter Stadtteils. Von seinem Fenster aus kann Emil Ehrath Laubbäume sehen. Die Tür geht auf, eine Frau mit weißer Schürze fragt überhöflich: „Na, Herr Ehrath, soll ich das Tablett mitnehmen, oder wollen Sie später noch essen?“ Für Ehrath scheint die Frage eine Beleidigung zu sein. Er muffelt: „Nehmen Sie es mit. Aber lassen Sie den Kaffee da.“ Die Frau geht ohne das Tablett.

Vor dreizehn Jahren starb Ehraths Frau, mit seinem Sohn hat er sich danach zerstritten, der Kontakt ist abgebrochen. „Von meinem Hungerstreik weiß er nichts.“ Ehraths Enkelin kommt einmal die Woche zu Besuch. Mit seinen direkten Nachbarn sei nichts anzufangen, „das sind lauter Verwirrte“. Ja, er leide darunter, daß er nicht mehr im „normalen Wohnheim“ ist, wo man mit den anderen noch reden könne. Er freut sich, daß von dort ab und zu Besucher kommen. „Die Mitinsassen sprechen mir ihre Achtung aus.“ Wie? „Na, die sagen, du hast ja recht.“ Heimleiter Michael Goldmann sagt, daß „sich da einige Leute Sorgen machen um den Herrn Ehrath“.

Im Flur vor Ehraths Zimmer sitzen mehrere alte Leute. Die Frau im Sessel nahe der Tür sagt: „Oh, da kommt einer, oh.“ Eine Frau schläft, ihr Kinn ist auf die Brust gesunken. Eine dreht einer jüngeren Besucherin den Kopf so hin, daß die ins linke Ohr: „Ich soll dich ganz herzlich grüßen“ brüllen kann. An einem Tisch sitzen zwei Männer. Sie unterhalten sich nicht, sie lesen nicht. Das Schild an der Tür zu Zimmer 132: „Der ist zu allem fähig!!!“ haben die beiden sicher nicht wahrgenommen.

Dieser Mann ist zu allem fähig? Emil Ehrath hat offiziell am 13. November zuletzt etwas gegessen. Nicht, daß das richtig aufgefallen wäre. Er ist tagsüber meist allein in seinem Zimmer. Die Betreuerinnen und die Zivis kommen – es geht nicht anders – nur kurz rein. Ehrath nimmt ihnen das nicht übel, „die werden hier ausgepreßt, das Heim muß inzwischen wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden“. Aber er kommentiert bitter: „Grundversorgung, nur das Nötigste, so will es Bonn. Deshalb esse ich nichts mehr.“

Michael Goldmann, der Heimleiter, spricht liebevoll über Emil Ehrath: „Er hat ja recht. Wir spüren die Bonner Sozialpolitik bis in unsere Einrichtung, Stellenkürzungen, Einsparungen“, hat er am Telefon gesagt. Goldmanns Vorgänger beschreibt Ehrath als „einen Menschen, der gegen Unrecht, das er wahrnimmt, angeht“. Die Enkelin nennt Ehrath „uneigennützig engagiert“.

Morgens wird ein Tablett in Ehraths Zimmer gestellt, ein Kännchen Kaffee, eine Tasse und ein Teller mit einem Hörnchen sind darauf. Irgendwann wird das Tablett wieder abgeholt. Wenn Emil Ehrath aufs Klo muß, kann er mit dem Rollstuhl alleine hinrollen. Die Tür zum Bad wird von einer Schnur ständig aufgehalten. Neben der Toilette sind Metallgriffe. Trotzdem schafft er es nicht mehr allein, er muß klingeln. Der alte Mann hat zwei Spazierstöcke, einer liegt auf dem Bett, einer auf dem vollgestopften Schreibtisch neben der elektrischen IBM-Schreibmaschine. „Mit denen kann ich mich abstoßen.“ Einmal gegen den Schreibtisch stemmen mit dem Stock reicht, um an das Krankenhausbett zu kommen, auf dessen Beistelltisch das Telefon steht. Ans Bett gelehnt ist eine Kinderschaufel, das rotlackierte Metall ist hochgebogen. „Damit kann ich Papier vom Boden aufheben.“ Er kann nicht allein vom Bett in den Rollstuhl steigen, wird morgens reingesetzt und abends rausgehoben und ins Bett gelegt.

„Wer sich im Leben allzu oft bückt, kann im Alter nicht mehr gerade stehen.“ Emil Ehrath benutzt oft solche Sätze, knappe, vorgestanzte Formeln, die, wie Ruinen nach einem Brand, übriggeblieben sind von dem, was ihm in seinem Leben das wichtigste ist. Er habe sich nicht zu oft gebückt. „Ich war ein Rebell.“ Den Satz genießt er. Was bedeutet er? „Ich habe mir nichts gefallen gelassen.“ Was heißt das? „Man muß verstehen, seine Ansprüche an den Staat und an die Gesellschaft geltend zu machen.“ Wie? „Man darf nicht als Bittsteller auftreten. Wenn ich sterbe, möchte ich nicht mit gefalteten Händen daliegen, sondern mit geballten Fäusten.“

Seinen Lebenslauf würde er gern auf den Satz: „Ich war Antifaschist“ reduzieren. Alles andere gibt er nur widerwillig preis, als wären die spärlichen Auskünfte Vertrauensbeweise. Seine Enkelin kennt das: „Mich hat sein Leben in Nazi-Deutschland interessiert, aber er hat nie viel davon erzählt. Nur halt, daß er mehr als fünf Jahre im Gefängnis war.“ Politisch aktiv ist Ehrath bis heute. Er war Sprecher der Mieterinitiative im Stadtteil Rohr, ist Vorsitzender des Heimbeirats, gehört dem Stuttgarter Seniorenrat an und „war immer in der Gewerkschaftsbewegung aktiv“. Allerdings nie als Mitglied. Mitglied sein, das habe er nicht so gut gefunden. Nur während der Weimarer Republik sei er in einer Jugendorganisation der KPD gewesen. Danach nichts mehr: „Ich war eher ein Einzelkämpfer.“

Emil Ehrath wuchs in Stuttgart auf, die Familie war Anfang des Jahrhunderts vom Land in die Stadt gezogen. Er lernte Sattler, dann kam die Wirtschaftskrise. „Ich habe mal hier, mal da gearbeitet, es gab nie was für lange.“ Den Arbeitsdienst unter den Nazis habe er nicht geleistet, „ich habe bei einem Bauern gearbeitet“. Offiziell war das wohl auch Arbeitsdienst, aber das sieht er nicht so. Emil Ehrath betont, er habe nie mitgemacht. Der Platz „auf der schwarzen Liste der Abteilung 4 der politischen Polizei“ war deshalb für ihn ein Ehrenplatz: „Wahrscheinlich stand ich da drauf wegen VzH, Vorbereitung zum Hochverrat.“ Er erzählt: „1934 wurde ich für einige Wochen in ein Lager gesperrt und hatte im Steinbruch zu arbeiten. Zur Wehrmacht mußte ich nicht. Die haben mich uk gestellt. Das heißt unabkömmlich, ich mußte also an der Heimatfront kämpfen.“ Eines Morgens, 1937, seien sie gekommen. Er wurde festgenommen: „Ich hatte nachts Flugblätter geschrieben, gedruckt und verteilt.“ Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, „teilweise in Einzelhaft“. 1942 sei er rausgekommen, habe in Metallbetrieben gearbeitet. 1945, als es hieß, alle kriegstauglichen Männer müßten ins letzte Gefecht, da habe er sich versteckt, statt um sieben Uhr morgens anzutreten. Als er geholt werden sollte, habe seine Frau einfach gesagt: „Mein Mann ist doch losgegangen.“

Nach dem Krieg hat Ehrath in vielen Berufen gearbeitet, als Dreher, Schleifer, Lagerarbeiter und Verkäufer. Jetzt bekommt er 2.501,12 Mark Rente, davon werden 177,37 Mark an die Krankenversicherung überwiesen, der Rest geht an die Stadtverwaltung für den Heimplatz. Einmal im Monat kommt jemand ins Zimmer 132 zu Emil Ehrath und gibt ihm 200 Mark in bar. Dazu ein paar Bons für Taxifahrten, die Ehrath aber nicht mehr macht. Die 200 Mark gehen für Fußpflege drauf, für Telefoneinheiten, für Zeitungen, für Kleinigkeiten wie das Futter des stillen Wellensittichs Jogi in dem Käfig am Fenster.

Emil Ehrath sitzt in seinem Rollstuhl und redet über die Wirkung seines Hungerstreiks. „Nach ein paar Tagen ist es den Zivis aufgefallen, daß ich nichts mehr esse.“ Inzwischen waren, das hat Einrichtungsleiter Michael Goldmann organisiert, eine Bundestagsabgeordnete und eine Landtagsabgeordnete da. Um ihm zu sagen, daß der Staat nicht mehr Geld ausgeben kann, als er einnimmt. Ehraths Kommentar: „Es gibt genug Geld, man muß nur von oben nach unten sparen, nicht von unten hoch.“ Daß die Politikerinnen kamen, das sei ein Erfolg. Außerdem kamen die Lokalzeitungen und berichteten wohlwollend.

Dann, am Ende, kommt Emil Ehrath zu dem Punkt, an dem er sagt: „Ich mache hier Öffentlichkeitsarbeit.“ Keinen richtigen Hungerstreik. Er ist 89 Jahre alt, er sitzt im Rollstuhl, sein Bedarf an Nahrung ist nicht groß. Er hat in den letzten Tagen immer mal ein paar Löffel Brühe und ständig Milch getrunken: „Und heute habe ich in der Kantine zum ersten Mal wieder Suppe gegessen.“ Sein Hungerstreik gehe jetzt zu Ende, „weil es an die Substanz geht, körperlich.“ Und, naja, Hungerstreik, er habe, bevor der offiziell begann, ein paar Tage lang kein Abendessen zu sich genommen. Aber das war kein Hungerstreik, das war einfach kein Hunger.

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