: Steiler Absturz für das Solidarprinzip
Umverteilung im Schatten des Haushaltslochs: Mit tausend ganz legalen Steuertricks drücken sich die Besserverdiener um ihren Beitrag zum Steueraufkommen: Die Einnahmen des Landes aus der Einkommenssteuer sinken seit Jahren ■ Von Bernhard Pötter
Fritz Kabolke kommt gerade so über die Runden. Der Angestellte bei einer Versicherung verdient den statistischen Durchschnitt von 63.060 Mark brutto im Jahr. Seine Frau trägt zur Ernährung der vierköpfigen Familie noch einmal 30.000 Mark bei. Das Geld reicht für Miete, Kleidung, Ernährung und eine Reise im Jahr, große finanzielle Sprünge sind nicht möglich. Kabolke hat weder das Kapital noch die Erfahrung, um steuerliche Abzüge geltend zu machen. Er zahlt jährlich 15.187 Mark an Lohnsteuer – etwa 20 Prozent des Familieneinkommens.
Darüber kann Justus Bohr nur lachen. Bohr ist Zahnarzt und verdient als Selbständiger mit eigener Praxis jährlich 300.000 Mark. Zahlte er ganz normal Steuern wie Fritz Kabolke, müßte er im Jahr 105.829 Mark an das Finanzamt überweisen. Doch das tut er nicht. Bohr investiert in ein Grundstück auf einem steuerbegünstigten Gewerbehof in Brandenburg. Für die 450.000 Mark hat er einen Kredit über 300.000 Mark aufgenommen und 150.000 Mark eigenes Kapital eingesetzt. Er nutzt die erhöhte Abschreibung von 200.000 Mark durch die Sonderabschreibung Ost. Für 1995 vermeidet er damit fast 95.000 Mark an Steuern, der Fiskus sieht von ihm nur 10.184 Mark – gerade noch drei Prozent seines Einkommens. Wenn Justus Bohr die Abschreibung über zwei Jahre hinzieht, kann er gut über 100.000 Mark an Steuerersparnis erlangen. Das Schöne daran: Die Zuschüsse des Staates für die Eigentumsbildung in Brandenburg kommen aus Steuermitteln – also aus dem Geld, das Kabolke Jahr für Jahr brav zahlt.
Die Fälle sind fiktiv, doch realistisch von einem Steuerberater errechnet. Sie verdeutlichen eine Tendenz, die sich aus den nüchternen Zahlen der Finanzverwaltung herauslesen läßt: Die Einnahmen des Landes werden in den letzten Jahren verstärkt von den Menschen aufgebracht, die sich als Lohnempfänger im mittleren und unteren Bereich des Einkommens befinden. Die Reichen dagegen drücken sich zunehmend davor, ihren Beitrag für die Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben aufzubringen – und zwar völlig legal. Denn der Staat hat ihnen vor allem mit der Sonderabschreibung Ost die Möglichkeit dazu gegeben. Und so führen die Gutbetuchten ihr Geld nicht wie die Kleinverdiener als Steuern zum Bau von Kitas und der Bezahlung von Beamten ab, sondern schaffen sich Vermögenswerte. Weil das politisch gewollt ist, bekommen die Steuersparer auch noch die Hälfte ihrer Kosten vom Staat erstattet – und zwar mit dem Steuergeld der Kleinverdiener. Während also der Landeshaushalt unter fehlenden Einnahmen und steigenden Ausgaben ächzt, vermehrt sich der Reichtum der oberen Zehntausend: Die Politik betreibt klassische Umverteilung von unten nach oben.
Bester Beleg dafür sind die Zahlen des Berliner Haushalts aus den letzten Jahren (siehe Kasten). In den Zahlen zeigen sich vor allem zwei Trends: Die Lohnsteuer, die die abhängig Beschäftigten zahlen, ist in ihrem Anteil an der Staatsfinanzierung immer wichtiger geworden. Von einem Anteil von 37 Prozent 1992 stieg er auf 42 Prozent 1996: 42 von 100 Mark, die Berlin in diesem Jahr an Steuern einnahm, stammten damit aus den Taschen von Lohnempfängern. Gleichzeitig sind die Einnahmen aus der Einkommenssteuer radikal eingebrochen: Lagen sie 1992 bis 1994 noch jeweils zwischen 600 und 700 Millionen Mark, sackten sie 1995 auf nur noch 214 Millionen weg und befinden sich seitdem im Sturzflug. Noch 1993 machte die Einkommenssteuer fünf Prozent der gesamten Einnahmen im Landeshaushalt aus – 1995 brachen sie auf ein Prozent ein und nehmen weiter ab. Im laufenden Haushaltsjahr plant Berlin nur noch Einnahmen von 183 Millionen – doch nach der vorläufigen Rechnung der ersten zehn Monate des Jahres 1997 drohen der Landeskasse statt Einnahmen aus der Steuer Rückzahlungen an die Bürger und damit Ausgaben in Höhe von 133 Millionen Mark. Dieser Fehlbetrag kann sich allerdings bis zum Jahresende noch reduzieren.
Dieses Haushaltsloch ist nicht vom Himmel gefallen. Der Grund für den dramatischen Rückgang der Zahlungen aus den reichen Haushalten an den Staat ist nicht etwa die Abnahme der Steuerpflichtigen: „Die Zahl der Fälle ist nicht gesunken“, vermeldet die Finanzverwaltung. Ursache ist vor allem die Sonderabschreibung Ost zur Finanzierung der deutschen Einheit: „Berlin ist ja umgeben von einem Gebiet, in dem die Sonderabschreibungen nur so locken“, sagt Konrad Webuschinski von der Oberfinanzdirektion Berlin. Um der maroden Ostwirtschaft auf die Beine zu helfen, sollten die reichen Westler
ihr Geld dort anlegen. Das taten sie auch und steckten es vor allem in Gewerbeparks und Immobilien. Doch den öffentlichen Haushalten fehlte damit gleichzeitig eine wichtige Säule ihrer Einnahmen – und die Finanzierung der staatlichen Aufgaben hat sich dramatisch verändert.
Der Trend ist inzwischen gut dokumentiert. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wies im September 1997 darauf hin, daß „insbesondere die Einnahmen aus den Gewinnsteuern stark – nämlich insgesamt um 30 Prozent – rückläufig“ sind. Zwischen 1993 und 1996 war die Situation beim Einnahmerückgang des Landes nach den Berechnungen des Instituts besonders dramatisch. Mit der Zinsabschlagsteuer greift der Staat mit Prozentsätzen zwischen 25 und 30 Prozent auf die Erträge aus Kapitalvermögen zu: Die Abgabe wird fällig, wenn dem Steuerpflichtigen Kapitalerträge aus Aktien, Firmenanteilen oder Zinsen zufließen. Der Rückgang dieser Abgaben betrug in Berlin 20 Prozent. Die Körperschaftssteuer ist die Variante der Einkommenssteuer für juristische Personen, also Kapitalgesellschaften wie Aktiengesellschaften oder GmbHs. Diese Abgabe auf die Gewinne des Unternehmens beträgt in der Regel 45 Prozent. Ihr Aufkommen an das Land ging zwischen 1993 und 1996 nach den Zahlen des DIW fast um ein Drittel zurück: nämlich um 31 Prozent. Auch die Zahlungen aus der Gewerbesteuer fielen in diesen für die Finanzlage der Stadt rabenschwarzen Jahren schlecht aus. Anders als die Einkommens- oder Körperschaftssteuer setzt die
Gewerbesteuer direkt am Gewerbebetrieb an und taxiert dessen Ertragskraft und das in ihm arbeitende Kapital ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage des Eigentümers. Die Steuer ist die wichtigste originäre Einkommensquelle der Kommunen. Auch hier sank das Ergebnis für das Land um 13 Prozent. Und schließlich verringerten sich die Landeseinnahmen aus der sogenannten veranlagten Einkommenssteuer, der Lohnsteuer für Selbständige, um astronomische 78 Prozent.
„Nach 1994 kam es zu einem Einbruch“, schreibt das DIW dann auch in seiner Analyse und benennt die Gründe: „Neben der überdurchschnittlich schlechten Wirtschaftsentwicklung und der hohen Arbeitslosigkeit sowie der Tatsache, daß in größerer Zahl Betriebe von Berlin ins Umland gewandert sind, war eine Reihe anderer Faktoren wirksam“, hieß es in dem Bericht. „Zu nennen ist an erster Stelle die steuerliche Förderung der Investitionstätigkeit in Ostdeutschland, die auch in Berlin das Steueraufkommen stark geschmälert hat. Wie im übrigen Bundesgebiet schlagen auch hier zunehmend Vergünstigungen wie die Verrechnung von Verlustzuweisungen aus gewerblichen Beteiligungen und aus Engagements in Immobilienfonds sowie von Verlusten aus Vermietung und Verpachtung zu Buche.“ Zu den ohnehin alarmierenden Fakten kommt nach Erkenntnissen des DIW erschwerend hinzu, daß die Finanzplaner den Haushalt permanent auf übertrieben optimistischen Annahmen fußen lassen: „All diese Effekte sind in den Prognosen des Arbeitskreises Steuerschätzung, die auch die Basis für die Aufstellung des Berliner Haushalts bilden, permanent unterschätzt worden.“
Wo das Geld bleibt, das dem Staat vorenthalten wurde, läßt sich leicht bei einem Blick auf den Gewerbeimmobilienmarkt und in die Terminkalender von Steuerberatern feststellen: In der gleichen Zeit, in der dem Land die Steuereinnahmen aus Kapitaleinkünften und selbständiger Arbeit verlorengingen, schossen die Abschreibungsobjekte in den neuen Ländern und Ostberlin wie Pilze aus dem Boden. Mit geringem Eigenkapital investieren die Steuersparer West in den Aufbau Ost, der sich oft in Gewerbeparks, Büroleerstand und Luxusho-
tels erschöpft. So unsinnig manche dieser Projekte waren und sind – eine Absicht haben sie alle: die Steuerflucht in den Osten. Der private Reichtum steigt, die öffentliche Armut steigt ebenfalls.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Körperschaftssteuer. Der Beitrag von etwa sechs Prozent am Gesamthaushalt ist seit 1995 auf die Hälfte geschmolzen. Veranschlagt werden die Unternehmen in der Regel am Sitz der Geschäftsleitung. Eines der wenigen Großunternehmen, das seine Zentrale in Berlin hat und dementsprechend Steuern zahlt, ist der Chemiekonzern Schering in Wedding. Ansonsten liegen die Konzernzentralen oft woanders. Beim Verkauf der Bewag legte die Finanzverwaltung deshalb besonderen Wert darauf, den Unternehmenssitz an der Spree zu belassen. Bei den meisten anderen Unternehmen schlägt die Geschichte Berlins negativ zu Buche: Entweder waren es marode Ostbetriebe, die nach der Wende abgewickelt wurden, oder sie stellten nur die „verlängerten Werkbänke“ von westdeutschen Konzernzentralen dar, die in Sindelfingen oder Bremen Steuern zahlen. Der Berliner Fiskus schaut in die Röhre.
Die Unternehmen wiederum stehen zunehmend unter Druck der Aktionäre, die im Rahmen des Shareholder-value von den Firmen möglichst hohen Ertrag sehen wollen. Darin zeigt sich die dreifache Klemme der Berliner Staatsfinanzen: Je mehr das Unternehmen an Gewinnen ausschüttet, desto geringer wird dadurch die Körperschaftssteuer, die abgeführt wird – das Land verliert zum ersten Mal Steuereinnahmen. Je mehr das Unternehmen an die Aktionäre ausschüttet, desto mehr Geld fließt auf die Konten der Aktienbesitzer, die einkommenssteuerpflichtig sind. Dieses Geld wird aber zu großen Teilen nicht an den Staat gezahlt, sondern in Sonderabschreibungen im Umland investiert – dem Land entgehen zum zweiten Mal Einnahmen. Schließlich setzt diese Orientierung am Shareholder-value eine Spirale der Rationalisierung und Entlassung in Gang, die Zehntausende den Job kostet – das Land verliert zum dritten Mal mögliche Einkommen aus der wichtigsten Steuer, der Lohnsteuer.
Das Leiden des Berliner Haushalts an den Einbrüchen bei der Einkommenssteuer ist schließlich eine Ironie der Geschichte: Jahrzehntelange galt West-Berlin zu Mauerzeiten selbst als steuerbegünstigte Abschreibeoase. So wurde auch das Europa-Center am Breitscheidplatz mit einem Fonds finanziert, der seinen Teilnehmern Steuern sparte – und damit dem bundesdeutschen Finanzminister das Geld vorenthielt.
Die Kurve verdeutlicht den Crash der Einnahmen des Landes. Von 700 Millionen 1993
stürzten sie in zwei Jahren auf ein knappes Drittel. Der Trend zeigt weiter steil nach unten: 1997 wird zum ersten Mal die Nullgrenze unterschritten: Die Landeskasse rechnet nicht mehr mit einer Einnahme, sondern mit einer Rückzahlung von 133 Millionen Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen