: Frank ist in letzter Zeit so unberechenbar
■ Rätselhaftes Weihnachten: Michael Chauvistrés Dokumentarfilm „Schau mich nicht so böse an“ über Männer mit weißen Bärten und Frauen in für die Jahreszeit viel zu dünnen Kleidern
An Weihnachten scheiden sich die Geister in harmoniefreundliche Idylliker und konsequente Nihilisten, eine Vielzahl von Zwischenstufen inbegriffen. Aber egal, wie man sich entscheidet, das festliche Ereignis selbst muß nicht unbedingt kongruent zum gefaßten Festtagsplan sein. Selbst die Flucht vor dem Großereignis gelingt nie wirklich befriedigend.
Mein persönlich rätselhaftestes Weihnachten hatte ich Mitte der siebziger Jahre – weil es ausfiel. Mutti saß abends an der Nähmaschine und bastelte an einem weißen, für die Jahreszeit etwas luftigen Kleidchen. Dann wurden Sterne aufgeklebt und ein paar Flügel zusammengefummelt. „Hilf mir doch mal.“ Mutti schön machen, au fein.
Was ich als kleines Mädchen erst später realisierte, dem widmet sich jetzt ein ganzer Dokumentarfilm. Nämlich dem lukrativen Ausschwärmen ganzer Heerscharen von studentischen Weihnachtsmännern und weiblichen Weihnachtsengeln, organisiert vom studentischen Jobservice Tusma. Der studentische Arbeitseinsatz als Festtagshelfer ist eine relativ lukrative Sache (pro Bescherung knappe 50 Mark bei rund 15 Einsätzen am Abend) und mag manchem auch – getarnt hinter Bart und roter Verkleidung – die Frage ersparen, was man selbst (nach Hause fahren, in die Kneipe oder auf die Insel) an Heiligabend machen soll.
„Ach ja, bringen Sie doch ruhig die Rute mit, wenn Sie eine dahaben, unser Frank ist in letzter Zeit so unberechenbar“, bittet eine Mutter im telefonischen Vorgespräch um autoritäre Mithilfe an Heiligabend. Denn vor der Bescherung liegt bei der Tusma – die die weihnachtliche Dienstleistung seit den Fünfzigern anbietet, und auch über die 68er rettete – die mittlerweile computergestützte Recherche bei den rund 5.000 Familien jedes Jahr. Da wird geklärt, wo die Geschenke deponiert sind, wie die Kinder gegebenenfalls zu ermahnen sind, und wie zahlenstark die versammelte Familie so ausfällt.
Bei der akuten Bescherungssituation in allen Berliner Bezirken und dem Brandenburgischen Umland sitzen die Familienmitglieder dann da wie die Orgelpfeifen und warten auf den Mann in der roten Kutte, der mehr als Entertainer, der Leben in die Bude bringt, denn als Mythosträger in Sachen Krippenspiel und heiligen Angelegenheiten fungiert. Drei Weihnachtsmann-Teams folgte Dokumentarregisseur Michael Chauvistré im letzten Jahr. Ohne großen Lichtaufbau, diskret im Schlepptau von Weihnachtsengel und -mann. Ohne Off-Kommentar sprechen die Innenansichten diverser Wohnstuben für sich. „Es geht ja um den merkwürdigsten Moment im Jahr“, so Chauvistré über die zentrale Familienveranstaltung. „Wir hatten als Filmteam da Zugang. Das gab uns eine Eintrittskarte.“ Ins heitere Gruselkabinett voller ernüchternder Momente, möchte man angesichts mancher Sequenzen ergänzen. Gudrun Holz
„Schau mich nicht so böse an“, Deutschland 1997, Regie: Michael Chauvistré, 66 Minuten. Kinos: Hackesche Höfe, Filmbühne am Steinplatz, Toni
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen