Vietnamesische Einmischung: Rettung oder Invasion

■ Der Krieg, den das sozialistische Vietnam Ende 1978 gegen das sozialistische „Kampuchea“ begann, erschütterte Westeuropas Linke nachhaltig – trotz der Berichte über die „Killing Fields“

Jähes Erschrecken, Ratlosigkeit, Depression. Den Linken im westlichen Europa verschlug es die Sprache, als am 23. Dezember 1978 12 vietnamesische Divisionen, unterstützt von der Luftwaffe, in Kambodscha eindrangen und in kurzer Zeit fast das ganze Land eroberten. Wohl waren die tiefen Gegensätze zwischen den Führungen von Vietnam und „Kampuchea“ bekannt. Aber der Krieg eines sozialistischen Landes, auf das sich so viele emanzipatorische Hoffnungen gegründet hatten, gegen ein anderes erschütterte die Grundfesten der internationalen Solidarität. Und das nachhaltig.

Es fehlte in der Folgezeit nicht an Versuchen, die Besetzung als Rettung in höchster Not, quasi als menschenrechtliche Intervention zu deklarieren. Aber trotz der Fakten des von den Roten Khmer verübten Massenmords, die dann zutage traten, blieb das Gefühl weit verbreitet, die Invasion habe in erster Linie der Beherrschung Kampucheas durch Vietnam gedient. Dafür sprach die lange Vorgeschichte der Gängelung der kambodschanischen Revolutionäre durch die größere Bruderpartei – angefangen von der Gründung der Kommunistischen Partei Indochinas 1930 bis zur massiven Einmischung der vietnamesischen Kommunisten in die Grundfragen des bewaffneten Kampfes, der in den frühen 70er Jahren gegen das proamerikanische Lon-Nol-Regime geführt wurde.

Die Linken polarisierten sich je nach ihrer politischen Orientierung in der Folgezeit in ein pro- vietnamesisches und ein Pro- „Kampuchea“-Lager, gründeten Komitees und Gegenkomitees, warfen Broschüren auf den Markt. Aber anders als in früheren Jahren gingen von dieser Polarisierung keine Impulse aus – sie war kraftlos, gedankenarm, stand im Zeichen der Niederlage. Heute sind die „Killing Fields“ Kambodschas eine historische Tatsache. Aber war deswegen die Invasion der Vietnamesen ein Akt der Menschenfreundlichkeit? Diese ganze trostlose Geschichte bildet heute einen festen Bestandteil des unglücklichen linken Bewußtseins.

Heute spricht jeder vom „Steinzeitkommunismus“ der Roten Khmer. Was aber war das Argument jener Linken, darunter keineswegs nur dogmatischer Hohlköpfe, gewesen, mit dem sie sich auch nach der Invasion Kambodschas für die Revolution der „Roten Khmer“ einsetzten? In erster Linie handelt es sich um die Idee, in Kambodscha habe eine „Bauernrevolution“ stattgefunden, die sich mitsamt ihren (auch aus der europäischen Geschichte bekannten) Grausamkeiten gegen die parasitären Einwohner der Städte gerichtet habe. Mithin sei das Morden ein spontaner Akt der Rache gewesen, den die Kommunisten nicht einzudämmen vermochten.

Die zwangsweise Entvölkerung Pnom Penhs war in dieser Perspektive Ausdruck der bäuerlichen Revolution und entsprach subjektiv wie objektiv den Bedürfnissen der Bauern. Dieser abstrakten Darlegung trat eine Medienkritik zur Seite, die glaubte, die Opferzahlen seien Produkt der Manipulation. Weil die US-Zeitungen immer gelogen hätten, hätten sie auch in diesem Fall Zeugenaussagen nach ihren Bedürfnissen verfälscht. Wie sich ein vormals kritisches Bewußtsein unter dem Druck starker Leidenschaften in Apologetik verwandelte, darüber steht die Analyse noch aus. Christian Semler