Nackt ins Leben laufen

Das Mädchen mit den Lederstiefeln und der geile alte Sack: Judith Kuckarts Roman „Der Bibliothekar“ schwankt zwischen Pathos, Peep-Show-Appeal und Kalauern  ■ Von Elke Buhr

In ihrem Debütroman „Wahl der Waffen“ ging es um die RAF und eine junge Frau, die der Erotik des Kampfes verfällt. Terrorismus und Sex. Der zweite Roman „Die schöne Frau“ handelte von einer Mittdreißigerin, die von Stöckelschuhen, Schweiß und Ledermännern träumt und irgendwann feststellt, daß ihre Mutter in einer von Hitlers Zuchtanstalten für Arier gezeugt wurde. Nationalsozialismus und Sex. In ihrem dritten Roman hat Judith Kuckart Politik und deutsche Geschichte gleich weggelassen. Es geht um ... Sex.

„Der Bibliothekar“ ist die Geschichte von Hans-Ullrich Kolbe, 53 Jahre alt, Angestellter, geschieden. Kolbe sammelt Kakteen, Bücher und „Bücher die es nicht mehr gibt“. Sammler, so warnt der Roman frühzeitig, sind nach Balzac die leidenschaftlichsten Menschen der Welt. Folgerichtig beschließt Kolbe, angeregt durch die Lektüre eines Buches über Nachtclubs in Paris, in die Welt der Leidenschaft hinauszugehen: „Heute nacht noch würde er sich das Lesen vom Leib reißen und nackt ins Leben laufen.“

Das Leben, in das er hineinrennt, heißt Jelena, ist 28 Jahre alt und erdbeerblond. Jelena ist Kind polnischer Einwanderer aus Dortmund-Hörde und tanzt in einem Nachtclub. Großzügig hat die Autorin ihre weibliche Hauptfigur mit den Insignien der Femme fatale ausgestattet. Jelena trägt einen Skorpion in die zarte Haut tätowiert – die Tierart, bei der die Weibchen die Männchen beim Kopulieren gern mal auffressen.

Während Jelenas lederbehandschuhte Rechte vor den Augen hypnotisierter Männer im „Dickicht unterhalb ihres Nabels“ verschwindet, beginnt der Bibliothekar zu beten. Er verfällt ihr und erobert sie unter Einsatz beträchtlicher Geldmittel. Bald verliert unser braver Bücherfreund Job und Wohnung; bei seiner unehelichen Lieblingstochter in Ostberlin wird er sich nie wieder melden. Statt dessen rasiert er seiner Jelena die Schamhaare und zwingt einen angeekelten Fotografen dazu, von dem angestrengt kopulierenden Paar Pornoaufnahmen zu machen.

Wie das endet, weiß man dank der verhalten verschachtelten Erzählstruktur des Romans schon nach wenigen Seiten. Als die Polizei die beiden in ihrem schäbigen Pensionszimmer findet, kniet der Bibliothekar unbeweglich auf dem Bettvorleger, eine Damenunterhose über das welke Fleisch gezogen. Jelena aber liegt auf dem Bett, die Kehle sauber durchgeschnitten. Foto. Klick. Jahre später betrachtet die mittlerweile erwachsene Tochter des Bibliothekars das Polizeifoto und denkt: „Die Frau ist tot, der Mann nicht. Die Frau ist nackt, der Mann nicht.“

Diese Feststellung hätte auch aus Elisabeth Bronfens Untersuchung „Die schöne Leiche“ oder anderen einschlägigen Studien über die Funktion der nackten toten Frau in Kunst und Literatur stammen können: erst idealisieren oder dämonisieren, dann abmurksen, und zwar möglichst ästhetisch. Klischee benannt, Gefahr gebannt, könnte man meinen: Hier versucht eine Autorin, auf dem Grat zwischen purer Reproduktion und ironischer Neudefinition der traditionellen Geschlechterrollen einen Weg zu radikaler Erotik und Leidenschaft zu finden. Falsch gedacht. Judith Kuckart entwickelt ihren Plot von dem alten geilen Bock und der Hure, die ihn ins Unglück treibt, zwar nicht ohne kritische Brechungen. Wenn sich der Bibliothekar das Objekt seiner Lust „aus der Luft sägt, schneller als Gott bei der Erschaffung der Welt“, und dann sexuellen Gewaltphantasien nachhängt, wird der fatale Mechanismus vom Mann, der die Frau als Spiegelbild seiner Obsessionen konstruiert, durchaus transparent. Doch dekonstruiert wird hier nichts: Während sich der Text von Beischlaf zu Beischlaf hangelt, verfestigt sich unaufhaltsam das Blauer-Engel-Klischee.

Vielleicht ist das Ganze ja als saftige Anti-p.c.-Provokation gemeint? Endlich wieder echten Sex, echte Leidenschaft, echte Männer und echte Frauen? Doch dazu sind die Charaktere zu blutleer. Je häufiger die Besessenheit des Bibliothekars behauptet wird, desto distanzierter blättert man die Seiten um. Die Jelena-Figur kommt über das Abziehbild des rätselhaft schweigenden Urweibes nicht hinaus, und wenn sie unvermittelt genauso tiefsinnige Weltweisheiten von sich gibt wie ihr belesener Sexualpartner, ist das so unglaubwürdig, daß man einfach denkt, die Autorin hätte ihre Romanfiguren verwechselt. Die Rahmenhandlung mit der erwachsenen Tochter, die Perspektivenwechsel versprach, versandet im Nichts. Die Sprache schwankt zwischen rotzigem Peep-Show-Appeal, hohem Pathos und kalauerhaften Wortspielen – manchmal einfallsreich, meist aber eher manieriert.

Was übrig bleibt nach 250 Romanseiten, ist die Geschichte vom geilen alten Sack und dem Mädchen mit den Ledernstiefeln. Das mufft wie ein vollgewichster Feinripp-Slip.

Judith Kuckart: „Der Bibliothekar“. Eichborn Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 272 S., 39,80 DM