Lob der Krawatte

■ Rot-Grün an der Macht (3): Die Stärke der Regierung ist ihre Fähigkeit, Konflikte und die eigene Rolle darin zu reflektieren

Die rot-grüne Koalition steht für eine Politik, in der vielleicht erstmals in diesem Land das Reden über die Politik und das Machen der Politik zwei deutlich unterschiedene Seiten einer Medaille sind, die nicht mehr voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen werden.

Die beiden Seiten gehören so sehr zusammen, daß es nur in den Wildlauf selbstverstärkender Abweichung führt, wenn man sie fein säuberlich voneinander trennt wie weiland den Herrn vom Knecht, den Gedanken von der Tat und die Praxis von der Theorie. Rot-Grün schickt sich an, für eine Politik zu stehen, die nicht nur eruiert, gemacht und dann schöngeredet wird, sondern die überdies reflektiert wird und in der der Reflexionsprozeß selbst Teil der Politik wird.

Wenn die Zeichen (also die eigenen Erwartungen) nicht trügen, haben wir es vielleicht erstmals mit einer Linken zu tun, die den drei traditionellen Verarbeitungsformen von Macht bei den Linken – gute Absichten, pragmatische Anpassung und die Entdeckung, daß der Kaiser nackt ist – eine vierte hinzufügt: intelligente Beobachtung und Kommunikation der Politik in der Politik. Verlautbarungen und Memoiren nach dem Muster französischer Intellektueller, die an der Mitterrand-Regierung beteiligt waren – „Wir haben den Mechanismus durchschaut, aber er hat uns ausgetrickst“ –, wird es, denke ich, von den Grünen, die jetzt an die Macht gekommen sind, nicht geben.

Statt dessen wird das Aussitzen der Diskussion und rasche Ergreifen der Gelegenheit, das in den vergangenen Jahren vorherrschte, einem politischen Stil weichen, der die Entscheidung mit der Moderation und die Moderation mit dem intelligenten Kommentar verknüpft. Wobei „Intelligenz“ hier heißt: Einsicht in den Korrekturbedarf des Wissens und Nicht-Wissens aller Beteiligten.

Es könnte sein, daß der unter Spontis und in der Toskanafraktion verbreitete und vielfach veralberte Hang zum Diskurs, zum Wort, zum Argument jetzt erst seine historische Wahrheit erfährt: Reflexion wäre dann nicht mehr die Rückzugsposition betroffener Gemüter, sondern ein eigenes Moment des politischen Prozesses. Das muß den einen oder anderen überraschenden Coup nicht ausschließen.

Ambivalenz heißt in diesem Zusammenhang, daß schon jetzt die Haltung kommuniziert wird: „Wie sollen wir wissen, was auf uns zukommt, wenn wir nur wissen, daß wir in ein hochgradig nicht-triviales System eingestiegen sind, das schon längst läuft, mit bekannten und unbekannten Akteuren läuft, und das sich nur historisch bestimmen läßt, denn es reagiert nur auf die eigenen Zustände, und nur es selbst weiß, wie es das macht.“ Ich will damit nicht sagen, daß SPD und Grüne die Arbeiten von Heinz von Foerster, der den Begriff des nicht-trivialen Systems eingeführt hat, im Kanzleramt und in den Ministerien zur Pflichtlektüre machen werden. Aber ich will damit sagen, daß die Grünen alle Chancen auf ihrer Seite haben, ihr eigenes „Nachdunkeln“, das ihnen der verstorbene Niklas Luhmann schon vor über zehn Jahren prophezeit hat, weder als Verrat der Ideale zu beklagen noch als Einsicht ins Gegebene zu feiern, sondern als heuristische Devise bei der Einarbeitung in die Verhältnisse zu benutzen.

In einem seiner frühen Romane sagt Paul Auster, in jeder Detektivstory gäbe es zwei Fälle: die Untat, die aufzuklären ist, und den des Detektivs, der der Sache auf die Spur kommen muß. Eine erfolgreiche Aufklärung sei nur zustandezubringen, wenn beide Fälle gelöst werden und der eine Fall ein Mittel zur Lösung des anderen Falles ist. So ist auch die bundesdeutsche Politik der eine Fall und die rot-grüne Koalition der andere. Einstweilen spricht nichts dagegen, daß die Grünen es der SPD und allen anderen vormachen, wie man sich selbst zum Fall machen kann, dessen Lösung einen anderen Fall zu lösen hilft.

Woher ich meinen Optimismus nehme? Weil der Optimismus die Strategie mit der größeren Reichweite ist. Der Optimismus schließt nichts aus, nicht einmal den Pessimismus. Zum anderen hat mich Joschka Fischers Krawatte überzeugt. Denn mir ist dazu eine Geschichte eingefallen, die Heinz von Foerster gerne erzählt. Er hatte mal einen Studenten, der trotz seiner Vorliebe für die Schauspielkunst Physik studierte, und dies auch mit viel Sinn für die Sache, jedoch von großer Prüfungsangst geplagt wurde und auch bereits mehrfach Prüfungen wiederholen mußte. Von Foerster gab ihm den Rat, den erfolgreichen Physikstudenten und Prüfling zu „spielen“, und das tat er denn auch erfolgreich.

Das soll nicht heißen, daß Fischer den Außenminister spielt. Ich glaube, er ist bereits jetzt und durch und durch ein Außenminister. Aber selbst wenn ihm ähnlich lange Amtszeiten beschieden sein sollten wie Genscher oder Kohl (ich drücke ihm die Daumen), so wird man sich doch nie vorstellen können, daß er, wie diese, schon als Außenminister bzw. Kanzler auf die Welt gekommen ist. Genscher und Kohl ist es gelungen, sich auf staatsmännische Weise zurückzuziehen. Auch an ihnen lernt man etwas über Politik. Und auch Genscher und Kohl waren Spieler.

Aber die Krawatte und der Dreiteiler von Fischer machen das Spiel zum Programm. Sie versprechen die Wiedereinführung der Bedingungen des Spiels in das Spiel. Das ist die Kurzformel für die Fähigkeit, in der Kommunikation auch die Bedingungen der Kommunikation zum Thema machen zu können, auf die man sich einläßt. Die Diplomatie, so stelle ich mir vor, ist die Kunst, dies zu tun unter der Bedingung, es zu lassen, weil damit viel zuviel Mißverständnisse heraufbeschworen werden können. Fischer wird es tun, und er wird es lassen. Er wird neue Mischungsverhältnisse des einen mit dem anderen ausprobieren.

Die Krawatte deutet an, daß da jemand zwischen dem System, auf das er sich einläßt, und seiner eigenen Beobachtung dieses Systems zu unterscheiden weiß und daß er willens ist, sich auch als Beobachter des Systems im System zur Geltung zu bringen.

Vielleicht hat ein Freund von mir recht, der die Abschaffung des Krawattenzwangs für die einzige Folge von 1968 hält. Tatsächlich hat sich nicht einmal diese Abschaffung durchsetzen können. Aber inzwischen fangen wir an, uns zu überlegen, wann wir die Krawatte umbinden und wann nicht. Die Krawatte wird zur Option. Das ist nicht wenig. Politik besteht darin, Bedeutungsakzente zu verschieben. Rot- Grün wird dies sichtbar tun. Alles andere, und das ist fast alles, steht nicht in ihrer Macht. Dirk Baecker