"Ich hatte dieses Teewurst-Syndrom"

■ Unangepaßtheit und ein stiller Hang zu ganz normalen Dingen prägen die erste Generation Berliner Kinder, die antiautoritär erzogen wurden. Zu Beginn einer Tagung, die sich mit der Zukunft der Kinderläde

taz: Seid ihr typische Kinderladen-Kinder?

Anna Kruse: Ja, ich glaube schon. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine typische Kinderladen- Karriere. Viele waren erst im Kinderladen, später auf dem Gymnasium oder der Gesamtschule und haben die dann abgebrochen. Und ganz viele sind heute freie Unternehmer. Sie können sich nicht anpassen, nicht als Angestellte arbeiten, sondern wollen Wagnisse eingehen. Das ist eigentlich genau das, was die CDU propagiert. Dabei sind wir auf niedrigem Niveau erfolgreich, wir können überleben, kommen finanziell aber nicht groß raus.

Gibt es auch eine typische Kinderladen-Familie?

Anna Kruse: Klar, die der gescheiterten Beziehungen und Scheidungen.

David Strempel: Stimmt, bei den Eltern, die ich aus dieser Zeit kenne, haben sich wirklich alle getrennt. Das gilt aber auch für ganz normale Familien.

Woran liegt das?

Anna Kruse: Die Frauen wollten damals mehr. Sie wollten sich emanzipieren, sie haben ihr eigenes Geld verdient. Unsere Mütter hatten endlich die Wahl.

Und dann haben sie den Kinderladen geputzt, während die Väter die ideologischen Reden geschwungen haben.

Anna Kruse: Das stimmte bei uns nicht, da haben auch die Männer gekocht. Mein Vater hat Gemüsesuppe gekocht. Manche Mütter haben aber lieber zwölf halbe Hähnchen besorgt.

David Strempel: Und das war manchmal klasse. Wir haben uns auch gefreut, wenn es Ravioli aus der Dose gab.

Was waren damals die einschneidendsten Erlebnisse?

Anna Kruse: Die Eltern wollten, daß wir frei aufwachsen. Dazu gehörte, das wir selbst ausloten, was wir tun. Gut war, daß es keine Verteufelung der Körperlichkeit gab. Ich kann mich erinnern, daß wir mit neun oder zehn Jahren am Wochenende allein im Kinderladen schlafen durften. Ich kann mich zwar nicht an Sexspielchen erinnern, aber warum sollten wir da sonst geschlafen haben? So etwas war bei Kindern in meiner Klasse absolut undenkbar.

David Strempel: Wir haben ganz selbstverständlich beeinander geschlafen. Die Eltern haben uns vertraut.

Wurden Körperentfaltung und Sexualität manchmal überstrapaziert?

David Strempel: Bei uns nicht. Wir sind zwar oft nackt rumgelaufen, aber gezwungen wurden wir dazu nicht. Ich fand eher zwei andere Punkte problematisch: Der erste ist das Prinzip der absoluten Gleichheit. Ich hatte einen Jungen in unserer Gruppe besonders gern. Wir haben die meiste Zeit miteinander verbracht. Irgendwann wurde uns gesagt, daß das nicht gut für die Gruppe sei, daß andere darunter leiden könnten, wenn wir immer zusammenglucken. Ich bin dazu gelenkt worden, auch mit anderen zu spielen, obwohl ich das gar nicht wollte.

Schlecht an dieser Gleichheit war auch, daß man kein Eigentum haben durfte. Ich hatte nie meine Spielsachen für mich. Ich gebe gerne ab und teile auch gerne. Das will ich aber freiwillig machen. Damals konnte ich aber nicht bestimmen, ob ich das machen wollte oder nicht.

Und der zweite Kritikpunkt?

David Strempel: Daß man uns beigebracht hat, daß man alles mit Worten klären kann, daß man alles hinterfragen soll und sich nicht vorschnell eine Meinung bilden soll. Das wäre gut, wenn sich alle so benehmen würden. Ich habe aber ziemlich schnell gemerkt, daß, wenn mich Leute verprügeln wollen, ich mit Reden nicht weitergekommen bin. Mich zu wehren, habe ich erst später gelernt.

Habt ihr – salopp gesagt – also einen Schaden davongetragen?

David Strempel: Nein, so weit würde ich nicht gehen.

Und eure Mitmenschen? Ist es ein Vorurteil, daß Kinderladen- Kinder dazu neigen, egozentrisch zu sein?

Anna Kruse: Ich glaube, da ist was dran. Wir sind unangepaßt, sehr selbstbewußt und haben uns nichts gefallen lassen. Wir haben uns auch moralischer verhalten als die erzogenen Kinder. Und das prägt mich heute noch.

Habt ihr unter dem politischen Engagement eurer Eltern gelitten?

David Strempel: Meine Mutter war eine treibende Kraft in der Berliner Frauenbewegung, in der autonomen Gruppe „Brot und Rosen“. Mit ihr bin ich damals auf Demos gegangen. Ich weiß noch, daß ich manchmal Angst vor der Polizei hatte, dann ist sie mit mir weggegangen. Zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren war ich politisch, da hatte ich eine Punk-Phase. Aber das ist lange vorbei. Jetzt ist es so, daß ich mich zwingen muß, Zeitung zu lesen, um auf dem laufenden zu sein. Der Job, den ich mache, der beansprucht mich einfach sehr.

Anna Kruse: 1968 war ich mit meiner Mutter auf der Titelseite der BZ, wir waren bei einer Demo, ich saß bei ihr auf der Schulter, und wir haben Ho-Ho-Ho-Chi-Minh gebrüllt. Oder diese Geschichte über die Kinderläden im Stern 1969: Damals hat mein Opa in seiner Heimatstadt alle Exemplare aufgekauft, damit die Nachbarn nicht das Foto von meinem Vater sehen. Mir fallen aber auch Szenen ein, wo die Bullen bei uns die Tür aufbrechen. Damals war ich drei, habe an der Tür gestanden und wie am Spieß gebrüllt: „Nehmt den Papa nicht mit!“ An dieses Ohnmachtsgefühl kann ich mich noch gut erinnern.

Hat euch das selbst politisiert?

Anna Kruse: Ich war sehr früh sehr politisch, zwischen zehn und achtzehn vielleicht. Mit zehn war ich bei den Pionieren der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), um Faschismus und Krieg zu bekämpfen. Später dann habe ich gegen US-Außenminister Haig demonstriert und war bei dem Polizeikessel auf dem Nollendorfplatz dabei. Mit Anfang Zwanzig hatte ich aber schon die Schnauze voll. Heute bin ich sehr mittelmäßig geworden, die extremen Zeiten sind einfach vorbei. Ich wähle seit Jahren Grün, würde nie in eine Partei eintreten und nehme Geld vom Innenminister als Auszeichnung für ein gutes Kinoprogramm.

Eure Eltern waren politisch, engagiert, radikal. Kann man gegen solche Eltern überhaupt rebellieren? Wie habt ihr euch abgegrenzt während der Pubertät?

David Strempel: Das ist schwierig. Ich hab mich mit meiner Mutter immer gut verstanden, und wenn ich meine Haare bunt färben wollte, hat ihre Freundin mir dabei geholfen. Ich habe ihr immer alles erzählt, auch was Drogen angeht. Irgendwann hat mich meine Mutter gefragt, ob ich schon mal gekifft hätte, hatte ich aber nicht. Da hat sie sich Sorgen gemacht, daß ich es nicht richtig mache, zuviel nehme oder auch zuwenig. Dabei wollte ich wirklich überhaupt nicht kiffen.

Anna Kruse: Gesellschaftliche Rebellion war schwer möglich. Persönlich ging das bei meinem Vater schon, weil er selbst eigentlich sehr autoritär war. Wenn ich sauer war und ihn bestrafen wollte, habe ich mit 13 heimlich die Bravo und Zigaretten gekauft, also das gemacht, was die anderen auch machten.

David Strempel: Manchmal habe ich meine Mutter einfach nicht verstanden. Ich wollte damals so eine Punkhose haben, mit Reißverschlüssen und Schnallen dran, aber die wollte meine Ma nicht kaufen, weil sie fand, daß sie faschistisch aussieht. Bei Springerstiefeln war es dasselbe. Im Endeffekt habe ich mir die Hose selbst gekauft.

Hättet ihr manchmal gerne in einer ganz normalen, spießigen Familie gelebt?

Anna Kruse: Bis ich neun war, gab es bei uns ja diese Vater-Mutter-Kind-Familie. Ich hatte aber auch dieses Teewurst-Syndrom. Ich hätte so gern abends mal ein ganz normales kaltes Abendessen gehabt. Aber es gab immer was Warmes zu essen, immer waren Leute dabei, immer war es ein Event. Ich weiß noch, daß ich manchmal stundenlang in einem Geschäft in der Nähe unserer Wohnung die Einbauküchen im Schaufenster angeguckt hab. Eine Einbauküche, das war mein absoluter Traum.

Hast du jetzt eine?

Anna Kruse: Mein Freund und ich wollen jetzt zusammmen ein Haus kaufen, und dann will ich endlich eine Einbauküche. Aber noch ist mein Freund dagegen.

Anna, du bekommst bald ein Kind. Wie wirst du es erziehen?

Anna Kruse: Nicht dogmatisch, auch was die Kita angeht. Ich werde gucken, was für Einrichtungen bei uns in der Nähe sind. Wichtig sind wenig Verkehr und viel Grün. Und ich will, daß es auch einen männlichen Erzieher gibt. Ich glaube nicht, daß ich diese Einrichtung unbedingt selbst prägen muß. Ich will auch nicht, daß jede Neuerung an meinem Kind ausprobiert wird, zum Beispiel, daß Veganer an meinem Kind herumexperimentieren. Ich will keine extremistischen Bedingungen. Aber so richtig viele Gedanken habe ich mir noch nicht gemacht.

Haben sich eure Eltern mehr Gedanken gemacht?

Anna Kruse: Ja, sie hatten aber auch einen ganz anderen Leidensdruck. Wenn man sich vorstellt, wie damals die Kinderaufbewahrung war... Allein dafür hat sich das alles gelohnt. Heute kannst du dein Kinder ohne Problem in einen normalen Kindergarten geben, die sind total okay.

David Strempel: Meine Mutter war damals von ihrer ganzen Frauenclique die erste, die ein Kind bekommen hat. Das war eine ganz bewußte Entscheidung. Daß sie dadurch arbeitstechnisch ausgefallen ist, ist damals bei den Frauen auf Kritik gestoßen. Es war nicht die Zeit, um sich an einen Mann zu binden.

Anna Kruse: Ich glaube, ich bin eine ziemlich Harte. Ich ziehe mein Ding durch. Und wenn ich David so zuhöre, kommt es mir vor, als würden wir beide dem Ideal von damals nahekommen: Männer müssen weicher werden, mehr zulassen. Und Frauen müssen sich mehr nehmen. Wir sind eigentlich so, wie sich unsere Eltern das damals vorgestellt haben.

Aber dafür seid ihr zu angepaßt, ihr müßtet doch eigentlich revolutionär oder zumindest politisch engagiert sein.

David Strempel: Stimmt, wir sind eher realistisch, ein bißchen abgeklärt.

Anna Kruse: Ich versuche eben selbstbewußt mein Leben zu gestalten, das zu machen, was mir Spaß macht. Aber nicht um jeden Preis, ich will niemanden über den Tisch ziehen. Das ist mein moralischer Anspruch, und das ist doch auch schon was.

Interview: Julia Naumann

und Sabine am Orde