Schon der Schreibtisch des Kaisers wurde getaggt

GELTUNGSDRANG Die Staatsanwaltschaft Wien wirft Renato S. vor, in mindestens 232 Fällen den Tag „Puber“ an Wände, Türen und Fenster gesprayt zu haben

Der Richter schätzt jedes Mal den möglichen Schaden und ist dabei bemüht, realistisch zu bleiben

„Puber“ ist 30 Jahre alt, der Pubertät also schon lange entwachsen, und steht wegen seines überdimensionalen Geltungsdrangs vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft Wien wirft dem Schweizer Renato S. vor, in mindestens 232 Fällen den Tag „Puber“ an eine Hauswand, Garagentüre, U-Bahn-Garnitur oder an ein Schaufenster gesprayt zu haben. Geschätzte Schadenshöhe: weit über 50.000 Euro. Ab diesem Betrag drohen sechs Monate bis fünf Jahre Haftstrafe.

Der Angeklagte wurde Anfang März in flagranti bei einer Sprühaktion ertappt und sitzt seither in Untersuchungshaft. Und er kooperiert durch ein teilweises Schuldeingeständnis mit den Behörden. Von den über 200 Tags will er 20 bis 30 selbst angebracht haben. Es handelt sich um die Schreibweise PuBeR, also mit P, B und R als Blockbuchstaben. Alle anderen würden entweder von Nachahmern stammen oder seien schon da gewesen, als er letztes Jahr aus der Schweiz gekommen sei. Ein grafologisches Gutachten ordnet dem Sprayer mehrere Schriftzüge eindeutig zu. Richter Wilhelm Mende legt Puber ein Foto nach dem anderen vor. Bei den meisten schließt dieser seine Autorenschaft definitiv aus, bei einigen ist er unsicher: „Könnte von mir sein.“ Der Richter schätzt jedes Mal den möglichen Schaden und ist dabei bemüht, realistisch zu bleiben. Er korrigiert schon einmal von 10.000 Euro auf 450.

Der Prozess gleitet gelegentlich ins Kabarettistische ab, wenn der Richter auf einem bei Dunkelheit aufgenommenen Foto vergeblich den Tag des Angeklagten sucht oder in den Unterlagen die Aufnahme einer voll beschmierten und besprühten Wand findet. In anderen Fällen konnte die Farbe mit Wasser abgewaschen werden. „Kein Schaden“, konstatiert der Richter. Bald ist klar, dass die von der Staatsanwaltschaft geschätzte Schadenssumme weit überzogen ist. Trotzdem zieht sich der Prozess in die Länge: 77 Zeugen sind geladen.

Renato S. hat Sympathisanten in Wien, die nach dessen Verhaftung auf Hauswänden „Freiheit für Puber“ forderten oder einfach den Tag übernahmen, um den Angeklagten zu entlasten. Wien mit seinen barocken und gründerzeitlichen Fassaden ist, verglichen mit Berlin oder anderen europäischen Großstädten, relativ graffitifrei. Es gibt einige Mauern, wo Street-Artists ihre Wandmalereien sprühen dürfen. Auch Galerien haben die Graffiti bereits als kommerziell verwertbare Kunst entdeckt. So war vor wenigen Monaten dem kolumbianischen Sprayer „Stinkfish“ eine Ausstellung gewidmet.

Der Hofkammerbeamte Joseph Kyselak, der in der Biedermeierzeit seinen Namenszug an Felswänden, Gebäuden, Denkmälern und Brücken hinterließ und ihn sogar in den Schreibtisch des Kaisers gravierte, gilt als Vorgänger der Tagger. Er hatte eine Wette abgeschlossen, dass er binnen weniger Monate in der ganzen Monarchie bekannt sein würde. RALF LEONHARD