Berlin unterschätzt die kulturelle Erstklassigkeit

■ Der hohe Rang der Kultur wird bei Berlins Politikern vor allem in Sonntagsreden gewürdigt. Im politischen Alltag dagegen wird das Geld für Zweit- und Drittklassiges verschleudert

Vom Pergamonaltar auf der Museumsinsel bis zur Beuys-Installation im Hamburger Bahnhof, von der klassischen Musik in der Staatsoper bis zum neuen Tanztheater im Hebbel-Theater: In der Kultur ist Berlin vielleicht nicht Weltspitze, aber zumindest konkurrenzfähig: „Angesichts der relativen Schwäche aller anderen Entwicklungsfaktoren“, schreiben die Autoren der Berlin-Studie, sei die Kultur „ein Standortvorteil im Wettbewerb mit anderen Großstädten Europas und der Welt.“

Solch blumige Bekenntnisse gehörten bei Berlins Politikern zum „rhetorischen Standard“, heißt es in der Studie: „Im politischen Alltag jedoch wird oft verfahren, als gelte es, das Gegenteil zu beweisen.“ Im Ernstfall bekämen „Felder, auf denen Berlin Zweit- oder Drittklassiges leistet, politische Priorität“. Die Entscheidungsträger unterschätzten entweder „die existentielle Bedeutung kultureller Erstklassigkeit“, oder sie hielten „den Rang der Kultur Berlins ohnehin für unanfechtbar“.

Nach all den Überschätzungen und Unterschätzungen der Nachwendezeit plädieren die Autoren für einen neuen Realismus. Allein durch seine schiere Größe besitze Berlin eine enorme kulturelle Vielfalt. Mehr Subkulturen als andernorts erreichten die kritische Größe, „die sie über den Rand von bloßen Randerscheinungen heraushebt“. Diese Vielfalt auch an kulturellen Institutionen sei aber, gemessen an anderen Großstädten, keinesfalls einmalig. Mehrere Opernhäuser gebe es beispielsweise auch in Prag, London, München oder dem Ruhrgebiet.

Ein Handicap gegenüber solchen Ballungszentren sieht die Studie aber in der „extrem schwachen Besiedlung“ des brandenburgischen Umlands. Die Berliner Kultur sei daher auf das einheimische Publikum und den Ferntourismus angewiesen. Eine „neue Qualität und Intensität der Außenbeziehungen“ werde daher die wichtigste Folge der „praktischen Ausübung der Hauptstadt-Funktion“ sein. Die „relativ geringe Zahl“ von Politikern und Verbandsvertretern falle kaum ins Gewicht.

Eine kulturelle Hegemonie wie in den zwanziger Jahren aber werde Berlin in Deutschland nie wieder ausüben. Eine Rückkehr des Potentials, das in den vergangenen Jahrzehnten nach Westdeutschland abwanderte, sei nicht zu erwarten. Statt um „rückwärtsgewandte Hauptstadt-Träume“ gehe es um eine „Hauptstadt neuen Typs“, um den „Aufbau und Ausbau eigener Ressourcen“. Daß die marode Berliner Landeskasse damit überfordert wäre, wissen auch die Wissenschaftler.

Hauptstadtkultur werde „mehr als bisher Bundeskultur heißen müssen“, schreiben sie daher.

Die Bundesgelder werden jedoch nicht alle Finanzprobleme lösen, und das Geld ist ohnehin nur ein Teil des Problems. Als ihren „Leitgedanken“ bezeichnet die Studie daher die „Entstaatlichung“ der Kultur. Die Politik müsse sich auf „kulturpolitisch- konzeptionelle Steuerungsaufgaben“ beschränken, „ungleich effizientere Organisations-, Betriebs- und Finanzierungsformen“ einführen, um das „finanzielle Engagement“ wirksamer zu machen als bisher. Gerade deshalb gehe es nicht um eine „Privatisierung der Kulturfinanzen“. Aufgabe der Politik sei es ganz im Gegenteil, die Kultur gegen „die Zwänge des freien Marktes zu schützen“. Kultur müsse „Selbstzweck“ sein, sonst verliere sie „schnell ihren Wert als Kernkompetenz“.

Die Rationalisierung des Kulturbetriebs scheiterte in Berlin bislang daran, daß selbst für die notwendigen Investitionen kein Geld vorhanden sei. „Unrationelles Wirtschaften auf niedrigem Produktionsniveau“, wird in der Studie konstatiert.

Ohne seinen Namen zu nennen, übt die Studie daher harte Kritik an Kultursenator Peter Radunski (CDU). Zum notwendigen Umbau der Institutionen habe der Senator zwar kluge Papiere erarbeiten lassen, ihre Umsetzung sei jedoch „nicht vorangekommen“. Die Entlassung mancher Kultureinrichtung aus dem Öffentlichen Dienst sei „auf halbem Wege steckengeblieben“. Wenn Radunski nur die Etats absenke, nicht aber die nötigen „Strukturveränderungen“ einleite, bringe er die Kulturschaffenden in die Klemme.

Die größten Sorgen machen sich die Wissenchaftler aber um die „dezentralen Aktivitäten und Institutionen“. Dort drohe „die lokale Basis der Kultur, sowohl nachwachsende Produktion als auch nachwachsendes Publikum, abzusterben“. Die Entlastung durch Bundesgelder müsse Berlin daher nutzen, „um die bezirkliche Kulturarbeit wieder funktionsfähig zu machen“. Auch in einer Metropole wie Berlin gibt es noch ein Leben jenseits von Pergamon und Beuys. Ralph Bollmann