Brutaler Herzensadel

Sie fährt ein eher altes Auto, ist unaufhörlich umgezogen und hört laut ZZ Top: Lucinda Williams säubert in sechsjähriger Arbeit den Country von seiner Sauberkeit  ■ Von Anke Westphal

Das Herz des Country schlägt unregelmäßig. Nach Jahren erfolgreicher Schrittmachertechnik im Stil Reba McEntires, Trisha Yearwoods oder Nancy Griffiths ein schöner Anlaß, tief durchzuatmen und ein wenig Todesangst zu haben. Nicht daß die Schrittmacher- Lebendigkeit die Liebhaber dieser US-amerikanischen Volksmusik gestört hätte, nur werden auch Schirmbesitzer bei warmem Regen gern naß. Warum? Die Rhetorik eines Zeitgeistes – mag er Mainstream Country heißen – behindert nämlich mit dessen Erkenntnis auf die Dauer auch den Genuß. Die Frage lautet andersrum, wie man als Country-Musikerin modern ist, ohne sich in gepflegter Langeweile aufzulösen.

Zwischen Lucinda Williams und Trisha Yearwood etwa liegen so viele Welten wie zwischen altem Americana-Sound und Nashville- Mainstream. Lucinda Williams, die Tochter des Dichters Miller Williams, gehört wie Gillian Welch und Iris DeMent zu den Roots- Performerinnen, die wegen ihrer Verstocktheit und musikalischen Bandbreite zu großartig sind für das Mainstream-Geschäft. Je nach Perspektive nennt man diese Eigenschaften an einem Menschen Charakterstärke oder Unflexibilität. Williams ist als Perfektionistin in puncto Selbstzweifel berüchtigt dafür, daß sie lange Jahre nach dem „Kannibalismus“-Prinzip an ein und derselben Platte arbeitet: Hier was angeknabbert, da was weggeworfen, die Kleinteile eingeweckt und Jahre später ausgespuckt. So ein musikalisches Anspruchsdenken bewahrt vor dem Verfall im Erfolg, sorgt aber auch nicht gerade für die Miete. Das Phänomen der berühmten Unberühmtheit! Auch Williams verdiente als Songwriterin ihre paar Mark, unter anderem für Emmylou Harris, Tom Petty („Change The Locks“) und Mary Chapin Carpenter (deren Grammy-Hit „Passionate Kisses“ ist von Williams).

Für ihre neue CD „Car Wheels On A Gravel Road“ hat Lucinda Williams sechs Jahre gebraucht, drei Garnituren Produzenten und viele, viele Musiker verschlissen – der Alptraum jeder Plattenfirma. Doch wen schert es bei diesem Resultat, wie lange Williams gebraucht hat? Auf der Textebene markiert die dünne Blonde die Bodenqualität ihres eckenständigen Claims durch Referenzen: Einerseits hört die Ich-Erzählerin dieser Songs auf ihrer ewigen Reise Loretta (Lynn) und Hank (Williams), andererseits auch Howlin Wolf und ZZ Top. Der Loser Beck und die Indie-Band Key Lime Pie sind nicht ausdrücklich erwähnt, drängen sich dem Hörer aber auf. An Beck erinnert vokal eine gewisse Träg- und Schwerhüftigkeit, die Williams jedoch kratzig vitalisiert. Die Stimme der Frau aus Louisiana wurde mit „3 Teile Honig, 2 Teile Bourbon“ vielleicht nicht besonders originell, aber treffend beschrieben. Mit der zweiterwähnten Band verbindet sie der gern auch kreisrunde Melodieverlauf, in „Car Wheels“ beispielsweise. Als Co-Musiker des Albums empfehlen sich Steve Earle (natürlich Gitarre), Bo Ramsey (slide guitar) und Emmylou Harris (harmony vocals) – Solidargemeinschaft in Theorie und Praxis.

Attention, please: Es muß endlich bekannt werden, daß es sich um die seltene Art von Musik handelt, die ganz klar keinen Kritiker benötigt, der sie dem Hörer vermittelt und erklärt. Herzensadel eben. Ich hörte Lucinda Williams zum ersten Mal – ohne zu wissen, wer da sang – in einem Plattenshop in Salem, Massachussetts und benahm mich dabei wie der Bär nach dem Winterschlaf am Honigtopf. Die Wachheit von „Car Wheels On A Gravel Road“ speist sich regional aus der musikalischen Randgruppentradition des tiefen Südens, nicht nur aus Country- Roots, sondern ebenso aus Memphis-Delta-Blues („Can't let go“, „Joy“) und Cajun: Roy Bittan von Springsteens E-Street Band spielt ein erstklassiges Zydeco-Akkordeon zu „I lost it“. Dazu ein Eimer ZZ Top, zur Kennzeichnung des Milieus: Dies ist keine Reihenhauswelt.

Die Biographie als Verlustgeschichte

„Car Wheels“ erzählt keine rücksichtsvoll zartbitteren Geschichten wie der Mainstream Country, vielmehr tupft Williams komplett angeschlagene Impressionen. Lucinda Williams' eigene Biographie erzählt Verlustgeschichte. Die Frau, inzwischen 45 Jahre alt, war berühmt für ihr Vagabundentum – sie hat praktisch überall gewohnt – und ein geniales Händchen bei der Suche nach dem Arschloch im Mann. Über Autoreifen, Landstraßen und zerbrochene Liebe hat man im Country, Folk und Blues schon immer gesungen – ja, das „longing thing“... Bei Williams sind die Autos wieder alt, die Autoradios zu laut und die Frauen nicht besonders sentimental. Zur Not machen sie es sich selbst – man höre genau auf „Right In Time“, das verbal dezent bleibt und instrumental sehr „driven“ ist. Man findet in Williams' Songs eine durch die Umstände aufgezwungene Nähe zum Verfall, aber keine Verbrüderung mit ihm. Proletarischer Blues der kleinen weißen Männer und Frauen – ja; White Trash – nie.

Die Mundharmonika in „Drunken Angel“ geht auf Kosten des alten Bob. Jetzt bewohnt Williams ein Häuschen in Nashville, wo ein Druck von Dylans „Self-Portrait“ über dem braunen Ledersofa hängt und ein Ziegel aus Woody Guthries Haus im Buchregal liegt. „I don't want you anymore / Cause you took my joy / I don't want you anymore / You took my joy / you took my joy / I want it back“, mault Lucinda Williams in „Joy“, einem One-chord-song nach Art der Sklaven-Arbeitslieder. Noch mehr Solidargemeinschaft: Woody Guthrie, Bob Dylan und Fotos von John Lee Hooker an den Wänden. „Car Wheels On Gravel Road“ ist von der Kritik als fehlendes Verbindungsstück zwischen Johnny Cash und Neil Young angemessen euphorisch gepriesen worden. Tatsächlich ist es eine unglaubliche Platte. Dabei: Einfach nur SCHÖN singen, so wie Mary Chapin Carpenter oder Yearwood, kann Lucinda Williams auch. „The way you move (Lucinda) / it's right in time.“ Du bist einfach zu cool, um vergessen zu werden.

Lucinda Williams: „Car Wheels On A Gravel Road“. Mercury Records