Rösser schlachten, Frieden stiften

Deutschboden, Brandenburg, im Jahre neun der Einheit. Streit zwischen einem Reiterhofbesitzer und einem Waldeigentümer. Weil der eine aus der Gegend stammt und der andere aus dem Westen, geht es um Grundsätzliches  ■ Von Kathi Seefeld

„Es hat sich überhaupt nichts verändert“, klagt er der Revierförsterin sein Leid.

„Ich dachte“, sagt sie.

Für Wolfgang Nelke ist das Problem grundsätzlich geworden. Es ist aufgequollen zu einem deutsch-deutschen Dilemma, das schon dadurch geprägt ist, daß es für Herrn A., wie er sagt, kein Thema mehr ist. A. möchte nicht, daß die Geschichte mit ihm und Wolfgang Nelke Schlagzeilen macht. „Wenn Sie über uns schreiben, dann möglichst anonym“, bittet er.

„Willkommen in Deutschboden.“ Wolfgang Nelke schüttelt sich lachend ob des schaurig-völkischen Namens seines Anwesens. Die Luft riecht schwer nach Wald und Nässe, in der Ferne hämmert ein Specht. Nelkes Stiefel sind lehmverkrustet, seine Forstarbeiterjoppe ist klamm. 1992 war der Westberliner Ethnologe am Museum für Völkerkunde auf der Suche nach einem Altersruhesitz „gen Osten“ aufgebrochen. An der Grenze der ehemaligen Bezirke Potsdam und Neubrandenburg, zwischen Schorfheide und Uckermark, wurde er fündig. Ein abgelegenes Bauerngehöft, heruntergekommen, mitten im Wald.

Nelke erwarb den Hof, kaufte nach und nach auch etwas Land, vor allem Wald, dazu. Er begann, Hunderte von Vogelhäusern aufzuhängen, entrümpelte einen kleinen Teich, pflanzte Laubbäume zwischen die Kiefern-Monokulturen und steckte Krokuszwiebeln entlang der Wege. Er beschäftigt einen pensionierten Förster, wenn er in Berlin arbeitet, und sooft es geht, packt er an den Wochenenden seine Sachen, greift sich sein Fahrrad und steigt in den Zug, der meist nur für ihn an einem fast vergessenen Bahnhof Zwischenstopp einlegt.

Wolfgang Nelke hat keinen Jeep, und er ist keiner von denen, die wenige Kilometer entfernt Schlagzeilen gemacht haben. Er ist nicht so einer wie der Graf, der in Himmelpfort mehrere hundert Hektar brandenburgischen Wald erwerben wollte, um als erstes die gutgewachsenen alten Buchen abzuholzen. Er ist auch kein Großeigentümer, der „Privatweg“-Schilder aufstellt und ungeliebte Waldbesucher mit Hunden vertreibt. Die Zäune, die Nelke gezogen hat, behindern keinen Spaziergänger, aber sie schützen die jungen Bäume vor dem Wild, das, als die Gegend noch DDR-Staatsjagdrevier war, hier sich üppiger vermehren durfte als andernorts. Jede Drahtrolle hat er mit der Schubkarre angeschleppt, jeden Zaunpfahl selbst gesetzt. „Ich bin der Zaunkönig von Deutschboden“, scherzt Wolfgang Nelke.

Kürzlich hat jemand Löcher in die Drähte geschnitten und ihm einen toten Hund über den Zaun geworfen.

Der Berliner Ethnologe weiß genau, wer ihm seit Jahren Böses will: ein einheimischer Reiterhofbesitzer, der mit seinen Pferden regelmäßig die Wege zertrampelt, der sich an keine Absprachen hält, der Leute beschäftigt, die bei ihm Holz klauen, der gedroht hat, sich an seinen Arbeitgeber zu wenden, wenn Nelke ihn weiter behelligt. Einer, „der alle Bewohner im Griff hat“, weil jeder, ist sich Wolfgang Nelke sicher, in der Gegend schon mal irgend etwas „schwarz gebaut“ hat: eine Garage oder einen Schuppen, ohne Genehmigung. Nur deshalb würde niemand etwas gegen Herrn A. unternehmen.

Herr A. ist der Leiter eines Amtes in der nahe gelegenen Kreisstadt. Der Reiterhof gehört seiner Frau. Er reite nur manchmal, sagt er sehr ernst. In einem kleinen, aufgeräumten Zimmer geht A. seinen Amtsgeschäften nach. Die meisten seiner Telefonate drehen sich an diesem Morgen um Fördermittel. „Die Region hat schwer zu kämpfen“, erklärt Herr A. „Die Uckermark ist der hinterletzte Zipfel von Brandenburg.“

Es klingt irgendwie pastoral, wenn Herr A. über die Strukturprobleme redet. Gerade der Tourismus entwickle sich nicht so, wie von den meisten Einheimischen erhofft. Ein Pensionswirt habe ihm erzählt, daß zu Ostern kein einziges Bett im Ort ausgebucht war, während man an der Ostsee die Besucher aus Berlin wohl stapeln konnte.

Und jede Meldung über die Gegend vergraule irgendwie die Leute. „Wenn niemand kommt, geht das zu Lasten der Arbeitsplätze.“ Soll deswegen der Streit zwischen ihm und Wolfgang Nelke anonym bleiben? Amtsleiter A. sieht müde aus. Er antwortet: Erst kürzlich, als über verstärkte „Munitionsfunde aus Russenzeiten“ bei Storkow berichtet wurde, wollte keiner mehr eine Straße bauen, ohne vorher kostenaufwendige Untersuchungen anstellen zu lassen. Bis sich das Mißverständnis aufklärte: Die Verseuchung des Bodens wurde in Storkow bei Fürstenwalde festgestellt, nicht in Storkow, für das er zuständig ist. Herr A. lächelt sanft. Schwer vorzustellen, daß einer wie er „rechte Jungmänner“ vor Nelkes Hütte geschickt haben soll. Der Berliner Ethnologe behauptet es, Herr A. schüttelt stumm den Kopf.

Ihr eigentliches Problem ist einfach zu beschreiben: Brandenburg zählt derzeit etwa 5.000 Pferdehalter. Seit 1993 gibt es eine Verordnung über das Reiten im Wald und in der freien Landschaft. Reitwege im Wald müssen ausgewiesen werden, Reitpferde sollten Plaketten tragen, heißt es darin. Auch daß die Festlegung eines Reitwegenetzes durch die untere Forstbehörde im Einvernehmen mit allen Waldeigentümern erfolgen soll.

Der Alltag sieht anders aus. Da geht es hoch zu Roß querfeldein und auch quer durch den Wald. Die wenigsten Hobbyreiter kennen die Gesetze. „Wir verleihen oder beherbergen doch nur die Pferde“, sagt Herr A. Schließlich könne auch niemand eine Autovermietung verantwortlich machen, wenn ein inkompetenter Fahrer gegen die Straßenverkehrsordnung verstoße.

Zu Anzeigen durch die Revierförster kommt es fast nie, klagt Wolfgang Nelke. Bei größeren Aktionen wie der Hubertusjagd wurde schlicht vergessen, ihn als Waldbesitzer zu konsultieren. Es wurden Schneisen neben vorhandenen Wegen geschlagen, Hindernisse errichtet und erst nach Monaten wieder entfernt. Der Eigentümer muß jedoch für die Unterhaltung der Wege aufkommen, er kann zur Rechenschaft gezogen werden, falls sich auf seinem Grund jemand den Fuß bricht. Nun schlägt der brandenburgische Waldbesitzerverband vor, für die Instandsetzung der Wege künftig auch Besitzer von Reiterhöfen zur Kasse zu bitten.

Für Herrn A., wie gesagt, ist der Streit kein Thema mehr. Bei einem Ortstermin im Oktober letzten Jahres sei alles geklärt worden. Seine Pferde tragen Plaketten und traben nur noch auf vorgeschriebenen Wegen. Wolfgang Nelke ist damit nicht zufrieden, er wirft dem Einheimischen „Harmoniesucht“ vor und hätte es gern schriftlich, „um etwas in der Hand zu haben, falls gegen die Abmachungen verstoßen wird“.

„Früher war hier nicht soviel Streit“, sagt Herr A. Früher gab es hier keine Wessis, hätte er sagen können. Doch Herr A. ist nicht dumm. „Ich habe keine Vorurteile“, sagt er und sinniert, „sie würden mich behindern, vorurteilsfrei zu handeln.“ Der Amtsleiter kennt aber viele Leute in der Gegend, die auf Zugereiste aus dem Westen überhaupt nicht gut zu sprechen sind. Früher, erzählt Herr A., war es zum Beispiel erlaubt, daß die Leute zu einer bestimmten Zeit ihre Gartenabfälle verbrennen durften. Jetzt sei das verboten, der Waldeigentümer dürfe aber nach dem Landeswaldgesetz durchaus noch Reste verbrennen. „Die Leute sehen das Feuer bei Herrn Nelke auf dem Anwesen und nicht die unterschiedliche Gesetzeslage. Sie sehen, der Wessi darf das, und wir dürfen das nicht.“ Nelke sei zwar harmloser als die meisten, aber er sei eben auch ein Westler.

Ein Fremder, ein Kauz noch dazu, der in ungeheizten Blockhütten schläft, bei Kannibalen in Neuguinea gelebt hat und sich mit Unmengen von Gegenständen seiner ethnologischen Forschungen umgibt, Reliquien: Kriegermasken, Schilde, Lanzen, Totenschädel, ausgestopfte Tiere. Wahrscheinlich würde er auch Pferde schlachten. Niemand aus dem nahen Dorf beschreibt Nelke als einen Mann, der seinen Besuchern gerne Kaffee und Kuchen kredenzt, der am offenen Feuer Geschichtchen erzählt, obwohl fast alle bei ihm waren, um ihm ihre zwei, drei Hektar Wald zu verkaufen, die sie nach der Wende zurückerhalten hatten und mit denen sie nichts anzufangen wußten.

„Die Leute im Osten haben kein Verhältnis zu privatem Eigentum, es ist für sie nichts wert, wenn es nicht gleich etwas bringt.“ Und der Respekt vor dem Besitz anderer scheint ihnen völlig fremd, faßt Nelke seine Deutschbodener Erkenntnisse der letzten Jahre zusammen. Am meisten empört ihn dabei das „nicht vorhandene Unrechtsbewußtsein der ehemaligen DDR-Bürger“.

Nelke ist nicht der einzige Eigentümer, den es stört, daß Reiter seine Wege aufwühlen. Er ist jedoch der einzige, der lautstark dagegen klagt. In den vergangenen vier Jahren hat er Briefe geschrieben, Anzeigen erstattet. Hefterfüllend. Briefe an die Revierförster, an das Amt für Forstwirtschaft, Briefe an den Landrat des Landkreises, an das Potsdamer Landwirtschaftsministerium, Briefe an das Umweltministerium. Die Anworten kamen spärlich. Es sei geprüft, mit Herrn A. geredet worden, eine Anzeige wurde wegen Nichtzuständigkeit abgewiesen: der Amtsleiter hatte mit seinem Reitertrupp die Kreisgrenze nicht passiert. In einem Fall mußte ein Ordnungsgeld gezahlt werden.

Herr A. sitzt in seinem Büro und grübelt. „Vielleicht sind die Menschen aus dem Westen irgendwie streitsüchtiger als wir“, sagt er. „Vielleicht liegt es einfach daran, daß Nelke sich wirtschaftlich etwas übernommen hat. Er hat viel zu teuer gekauft, und seine Familie muß ihm wohl ganz schön zugesetzt haben. Vielleicht ist es das, weshalb er wütend auf uns ist.“ Vielleicht.

„Im Osten stecken alle unter einer Decke, und es gilt das Recht des Stärkeren“, sagt Wolfgang Nelke. Jeder hoffe, von den „fetten Gewinnen“ des Herrn A. irgendwie zu profitieren.

Ein Reiterhof in der Uckermark sei keineswegs eine Goldgrube, sagt der Amtsleiter. Seine Frau, die zu DDR-Zeiten Veterinäringenieurin gewesen ist und dann arbeitslos wurde, übernahm nach der Wende das einstige LPG-Domizil des örtlichen Reitvereins. Alle Einnahmen flossen in den stückweisen Ausbau des Hofes. „Wir haben derzeit etwa 40 Pferde, viele zur Pension hier.“ Der erhoffte Boom aus Berlin sei jedoch ausgeblieben. „Es gibt zu viele Angebote im unmittelbaren Umland.“ Die einheimischen Kinder und Jugendlichen können das Geld für die Reitstunden in den seltensten Fällen aufbringen. „Wenn dann noch bei jedem Ausritt Gäste von uns beschimpft und bedroht werden, können wir einpacken“, sagt Herr A. Und er sagt, daß er seinen Reitern und Gästen den Tip gegeben hat, Nelkes Areal zu meiden.

Der Waldbesitz des Ethnologen mißt gut 50 Hektar. Kein Pferd weit und breit. Nur der Große Buntspecht meißelt sich eine neue Baumhöhle, und ein paar Kraniche steigen hinter den Baumwipfeln in die Luft.

„Sie werden kommen“, sagt Wolfgang Nelke.