„Aber Käsperle spielat mir net“

Stetten am kalten Markt spielt Theater. Oder: Wie es kam, daß ein Dorf auf der Schwäbischen Alb mit einem selbstkritischen Bühnenstück seine 1.200jährige Geschichte erzählt  ■   Von Marianne Mösle (Text) und Martin Storz (Fotos)

Normalerweise sei der Marktplatz schon sauberer als heute, entschuldigt sich der Stettener Bürgermeister Gregor Hipp und präsentiert dann das ehemalige Schloß der hochnoblen Herren von und zu Hausen und Stetten aus dem Jahre 1555, jetzt das Rathaus und der ganze Stolz des 5.600-Einwohner-Dorfes am südlichen Rand der Schwäbischen Alb. Vor der Freitreppe blühen Geranien in den Farben des Dorfes – Rot und Weiß, auf dem großen, kahlen Asphaltplatz wirbelt der Wind ein paar Holzspäne vor sich her.

Übriggebliebene Schnipsel der Theaterprobe vom Tag zuvor. In Stetten am kalten Markt wird Theater gespielt, zur 1.200-JahrFeier: „Stetten – dem Himmel so nah“. Das ganze Dorf macht mit, 270 Einwohner stehen auf der Bühne, keiner fehlt bei der Heimatgeschichte, auch im Stück nicht: Sogar der Herrgott ist heruntergestiegen, um das Treiben der Leute von der Alb zu kommentieren, eine Schulklasse lernt aus den Fehlern der Alten, eine Jugendband provoziert, und ein Stammtisch drischt beschönigende, manchmal auch nachdenkliche Phrasen. Sie erzählen vom Bauernaufstand, von einer fürstlichen Hochzeit, vom 48er Treiben, von Kriegswirren und von einem der ersten deutschen Konzentrationslager, das 1933 auf dem Stettener Heuberg errichtet wurde. Geschrieben hat das „Spiel mit Gott, Pfarr und dem Volk“ Franz Xaver Ott vom Melchinger Lindenhoftheater, das den Dörflern für seine ungewöhnlichen Volkstheaterinszenierungen gerühmt wurde.

Jetzt, kurz vor der Premiere am Samstag, arbeiten sie alle zusammen, die Profis vom Lindenhof und die Stettener Laien, mitsamt den Teilgemeinden, mit den Fronstettenern und den Nusplingern, den Storzingern und den Glashüttenern. Die Feuerwehr und der Sportverein, die Landjugend, der Schützenverein, der Liederkranz und der Kirchengemeinderat, alle spielen, viele machen Musik, manche nähen Kostüme, andere bauen Kulissen, die meisten machen alles. „Theaterspielen bringt die Menschen zusammen“, sagt der Lindenhof-Regisseur Stefan Hallmayer. Das war nicht von Anfang an so.

Einen Umzug in historischen Gewändern wolle man sich ersparen, entschied der Festausschuß, der seit vier Jahren regelmäßig tagt. „Wir machen aufregendes Freilichttheater, bei dem möglichst viele, alte und junge Dorfbewohner mitspielen können“, hieß es. Ein Stück über die ausgiebigen Festivitäten der Herren von Hausen wollte man aufführen. Die Stettener Hochzeit anno 1598, als das Haus von Hausen die Vermählung des letzten Sprosses der Familie nicht weniger pompös als der Buckhingham Palast feierte.

Wollte man. Ein historisches Theaterstück ist die Visitenkarte eines Dorfes, hieß es. Also nahm Unternehmerin und Festausschußmitglied Claudia Mogg mit den Theaterleuten aus Melchingen Kontakt auf. Die Lindenhöfler waren wohl angetan von der Idee. Aber ein Theaterstück rund um Hochzeitsversprechen und Wildschweinbraten, das konnte sich Franz Ott, der den Volkstheaterpreis für sein kritisches „Hoimataberau“ (Heimat aber auch) und für„Die letzten Sautage“ bekam, nicht vorstellen. Warum nicht Szenen aus der 1.200jährigen Dorfgeschichte spielen, schlug er vor. Das Festkomitee war's einverstanden.

Bis die ersten Proben eintrafen. Beim Lesen habe er Probleme damit gehabt, sagt Bürgermeister Hipp. Annemarie Sauter, die seit über einem Jahr in jeder freien Minute mit 33 anderen Frauen Kostüme für das Ereignis näht, sagt vorsichtig, mit dem Stück habe sie nicht viel anfangen können. Und der Herr Pfarrer, Lothar Wiest, der nicht nur wegen seiner Einmeterfünfundneunzig und seinem „Bäuchle“ die gewichtigste Respektsperson im Dorf ist, will sich gleich gar nicht äußern: „Ja, wissen Sie, ich habe es mir abgeschminkt, darüber etwas zu sagen.“

Was der Autor zu Papier gebracht hat, muß wohl schmerzen, auch wenn die Geschichte der Albgemeinde sich nur wenig von der anderer Gemeinden in der Provinz unterscheidet. Oder doch?

Normalerweise sei der Marktplatz nicht so dreckig, hatte auch Frau Sauter von der Nähstube zur Begrüßung gesagt. Ja, um Sauberkeit ist die Ortschaft bemüht. Man muß schließlich auf seinen Ruf achten. Stetten am kalten „A.“, wo der Sage nach einmal mitten im Juni eine „Gois verfroren“ ist, hatte lange nicht den besten.

„Des kannst sowieso nicht verhindra, daß s' ganze Land heut' immer noch vom Heuberg schwätzt, in ganz Süddeutschland ist des in Gottes Namen ein fester Begriff für Lagerhärte und Naziwillkür“, sagt einer im Theaterstück. Auf dem Heuberg wurden knapp 4.000 Sozialisten, Kommunisten und Juden zehn Monate lang grausam gequält, viele von ihnen später in Auschwitz ermordet.

Seit 1910, seit Stetten zum Truppenstandort ausgebaut wurde, ist die Gemeinde wirtschaftlich auf das Militärlager zugeschnitten. Während der Weimarer Republik hatte der Abzug der Reichswehr das Dorf in eine tiefe Rezession gestürzt. Heute sieht es ähnlich aus. Vor knapp zwei Jahren hatte das dritte Dragonerregiment der französischen Armee nach 51 Jahren den Heuberg endgültig verlassen. Au revoir. Bis dato hatten die Stettener mit den französischen Soldaten zwar wenig zu tun. Aber seit sie weg sind, werden sie vom dörflichen Einzelhandel, von der Amtskasse und von den ansässigen Handwerksbetrieben schmerzlich vermißt. Auf „ein gutes Marketing“, baut Bürgermeister Hipp deshalb, erst im Frühjahr wurde er mit großer Mehrheit wiedergewählt.

Da kommt die 1.200-Jahr-Feier gerade recht, der Bürgermeister hetzt von einem Termin zum nächsten, vom Fußballpokalspiel zum Treffen der französischen Partnerstadt. Das ganze Jahr über wird gefeiert, zur Hauptreise- und Ferienzeit steigt dann das Festival mit Spielleuten aus der ganzen Republik, mit historischem Markt, einem mittelalterlichen Hochzeitsmahl, mit viel Funk und Fernsehen selbstverständlich.

Und eben diesem Theaterstück, in dem der Allmächtige mit der Dorfchronik hart ins Gericht geht. Der Festausschuß war empört über das, was sich Franz Ott aus ihrer Geschichte da zusammengereimt hatte. Schlechter Stil! Bauernposenniveau! Historische Mängel! Ganz abgesehen von den unzähligen derben Flüchen – „Ja heilandkreuzmillionsdonnerwetter“, wo käme man denn dahin, wenn sich eine Ortschaft bei einem Jubiläumsfestspiel nur von ihren schlechtesten Seiten zeigte.

Aber Stetten lehnte nicht ab, nach dem ersten Schock setzten sich Theaterleute und Festausschuß zusammen: Mußte das Konzentrationslager und die zwiespältige Haltung der Stettener dazu wirklich so breitgetreten werden? „Tatsach' ist, daß d'Stettener des Lager hent wolla ...“, so steht's geschrieben. Und: „A Schutzhaftlager war des! Heilandsackermentnomoal, zum Schutz des Volkes und des Staates hoat ma dia Leut verhaftet und festgnomma ...“ War es wirklich notwendig, daß in einem Jubiläumsspiel die endlose Diskussion um die Bezeichnung „Schutzhaftlager“ oder „KZ“ wiederaufflackerte? Hatte die SPD doch vor Jahren schon eine schöne Gedenktafel mit der Bezeichnung „Lager“ durchgesetzt und anbringen lassen.

Noch Fragen? Auch die Herren von Hausen aus dem 16. Jahrhundert, deren Wappen die Wände des Rathauses zieren, sollten nicht ungeschoren davonkommen. Aber Ausbeuter und Blutsauger, wie das Theaterstück nahelegt, nein, das waren sie nicht gewesen. „Die waren sozial“, hört man im Dorf. Immerhin hatten sie die erste Schule errichten lassen. „Und von was hent se des zahlt? Vom Zehnta“, wird am Stammtisch diskutiert.

Auch mit anderen, harmloseren Gags konnte man sich in der Albgemeinde nur allmählich anfreunden. Daß Gottvater persönlich auf dem Heuberg wandelt, das ließ man sich gerade noch gefallen. Daß der aber hinnimmt, daß der Pfarrer und seine Haushälterin ein Paar sind, und er höchstselbst mit der Lehrerin rumturtelt, das ging zu weit. „Ersatzlos streichen“, hieß es da.

„Wie stellen Sie sich das vor, meine Herren?“ fragte einmal der Pfarrer Wiest die Lindenhöfler. „Gott sei Dank kennt Theater keine Tabus“, entgegnete der Regisseur Hallmayer ein anderes Mal. „Und dann haben wir uns überlegt, ob es dem Image einer Gemeinde nicht auch gut tut, zu ihren positiven wie negativen, zu ihren menschlichen Seiten zu stehen“ – inzwischen ist Bürgermeister Hipp überzeugt, daß gerade die offene Auseinandersetzung im Dorf ihre Anerkennung finden muß.

Die Proben, das Theater und die Begeisterung der Gemeinde haben jede Diskussion hinter sich gelassen. Alle spielen, das ganze Dorf. „Es hat etwas unglaublich Humanes, wenn die Menschen ihre eigene Geschichte auf die Bühne bringen“, sagt der Regisseur. „Die Vielschichtigkeit des Alltags ist der Reiz des Theaters.“ Deshalb spielt er gerne mit Amateuren, mit Kindern und Schülern, deshalb inszeniert er in Stetten.

Stefan Hallmayer kennt seine Landsmannen und -frauen von der Schwäbischen Alb. Er ist hier aufgewachsen, weiß wie Kirchenchor, Stammtisch und Landjugend zu packen sind. „No a bißle lauter, probiert's aus, legt euch hin und singt weiter“, die Probenanweisungen sind einfühlsam, aber eindeutig. „Aber Käsperle spielat mir net.“

Nur kurz hat der eine oder andere noch gekrittelt. Jetzt läuft die Blasmusik auf Stelzen und die Leute vom Sängerkranz schmettern mit stolzgeschwellter Brust zum mittelalterlichen Gelage, melancholisch stimmen sie das Lied der Heuberger Lagerhälftlinge an oder spielen Tote.

Die Spielfreude hat alle Bedenken weggeputzt, 270 Leute schwärmen von ihrem kompetenten Regisseur von „Stetten – dem Himmel so nah“. Da sind die düsteren Szenen plötzlich gar nicht mehr so düster und die Flüche gar nicht mehr so derb. „Dieses Theater bringt den Ort zusammen, der Stefan ist spitze“, schwärmt Organisatorin Claudia Mogg. „Da geht der Punk ab.“ Sogar Bürgermeister Hipp übernimmt eine kleine Rolle: „Meine Skepsis ist verflogen, seit ich die letzte Probe gesehen habe.“

Und Annemarie Sauter ist stolz, weil in ihrer Nähstube rund um die Uhr, ehrenamtlich und unentgeltlich, Brautkleider und Bauernkittel, SA-Uniformen und Hecker-Mützen genäht werden.

Allein der bärige Pfarrer, der von sich sagt, daß er mit Künstlern und der künstlerischen Kreativität „eba net soviel Erfahrung“ habe, ringt noch mit einem Rest von Mißtrauen.

Seinen Schirm hält er trotzdem über den Regisseur, wenn es bei der Probe regnet.