A House in New Orleans

So naiv wie scharfsinnig: Nell Kimballs Erinnerungen an ihr Leben als Hure. The other side of Goldrush, Viehtreiberei und Spieltisch zu Beginn des Jahrhunderts  ■   Von Jenni Zylka

Im technicolorbunten Hollywoodfilm kommt die Hure mit rotgefärbtem, hochgestecktem Haar im prächtigen Rüschenkleid die Treppe zum Saloon hinunter, die Hände auf den wiegenden Hüften, und singt kokett „There's no ring on her finger. The rings are all under her eyes ...“.

Diese Hure ist eine feste Zutat des Wilden Westens oder dessen, was Ende des letzten Jahrhunderts von ihm übrig war, weiterhin gibt es schweigsame, trinkfeste Cowboys, zugeknöpfte Damen, unrasierte Gangster und kajalgeschminkte Indianer. Die Verbindungen sind klar definiert: Cowboy wie Gangster gehen ins Freudenhaus, um sich nach einem langen, einsamen Ritt zu amüsieren, und treffen dort auf willige, schöne Freudenmädchen.

Entweder sind diese Mädchen schmückendes Beiwerk oder sie sind die berühmte Hure mit Herz und verlieben sich unglücklich in einen Protagonisten, der aber am Ende lieber eine anständige Frau nimmt.

Was tatsächlich hinter den schmutzigen Gardinen, im zweiten Stock der Freudenhäuser abging, wenn die nach Pferd und Whiskey miefenden Männer sich aus ihren langen Unterhosen geschält hatten, davon erzählt Nell Kimball. Sie arbeitete als Hure, später als „Madame“, also Führerin eines Freudenhauses, zwischen 1869 und 1917 in St. Louis, New Orleans und San Francisco.

Ihre Erinnerungen aus dem Bordell beleuchten eine Seite, die in der von und für Männer gestalteten Western-Maschinerie nie einen hohen Stellenwert hatte.

Petting, Suff und Prügeleien

Kimball hat versucht, einen Platz in der rauen Welt zwischen Goldrush, Viehtreiberei und Spieltisch zu finden, in der scheinbar wenig Rollen für selbstbestimmte und sexuell aktive Frauen vorgesehen sind. Mit 15 flüchtet sie von der Farm, auf der sich ihre Mutter regelmäßig still vom frommen Vater beschlafen lässt und ein Kind nach dem anderen gebärt. Die meisten ihrer Geschwister sterben an durch Armut bedingten Krankheiten, das übrige Leben scheint aus Prügeleien, Petting und Suff zu bestehen. „Nirgendwo habe ich später erlebt, dass so viel gesoffen wurde wie auf den Farmen in unserer Gegend“, schreibt sie über diese Zeit. Und dass es „irgendwie immer um Sex“ ging.

Auch Nell denkt an nichts anderes, sucht sich einen Liebhaber und geht mit ihm nach St. Louis. Dort lässt er sie sitzen, und so landet sie in einem Bordell, der einzigen Kontaktadresse in der fremden, verwirrend großen Stadt, in dem sie fortan als Hure arbeitet und sich weiterbildet: „Wirkliche Bildung bekam ich erst, als ich Hure und Madame war und mich mit gebildeten Gästen unterhielt.“ Kimball malt ein drastisches Bild von den Huren und Freiern und dem Bordellalltag. Sie schätzt sich selbst zwar als „einfache Frau“ ein, erklärt aber so naiv wie scharfsinnig den desillusionierenden Kreislauf von Alkoholismus und sexuellen Erlebnissen – auch jeder Menge schöner Erlebnisse – und die Armut und Nichtwissen geschuldete Ohnmacht gegenüber reichen, einflussreichen Bürgern.

Bitteres im Plauderton

Später führt sie selbst ein Freudenhaus, „eines der feinsten Adressen“, in dem diese Reichen und Machthabenden ein und aus gehen und sich Frauen kaufen. Sie durchschaut die politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen und analysiert das Verhalten der Freier, die eine geliebte Ehefrau zu Hause haben und trotzdem einen sexuellen Kick bekommen, wenn sie eine Prostituierte bezahlen.

Immer wieder weist sie mit einer Art trotzigem Gerechtigkeitsgefühl darauf hin, dass „Huren auch Menschen sind“.

Kimball gibt ihre meist bitteren Erfahrungen im charmanten Plauderton zum Besten, wie eine Märchenerzählerin, und genauso gebannt hört man ihr zu. Sie ist zu Tränen rührend, wenn sie von der Phase als Ehefrau und Mutter berichtet, ihr Mann, ein Krimineller, wurde erschossen, das Kind starb zweijährig an Diphtherie, denn Kimball war zu dieser Zeit völlig mittellos und wollte nicht als Hure arbeiten.

Und sie kennt die richtigen Storys, die das Leben in diesem Milieu illustrieren, weiß zum Beispiel, dass der Begriff „Rotlichtbezirk“ von den roten Laternen der als Bremser arbeitenden Männer stammt. Die hängten diese Lampen an die Tür des Bordells, in das sie einkehrten, damit die Eisenbahnkollegen sie dort finden konnten, wenn die Reise weiterging.

Kimballs bewegende, spannende Memoiren enden 1917, als Storyville, der Rotlichtbezirk von New Orleans, von der Regierung geschlossen wurde. Und lässt einen mit einem tiefen Einblick in das Leben dieser Zeit zurück, wie ihn ein Geschichtsbuch, ein Hollywoodfilm oder ein Roman nie schaffen könnte.

Nell Kimball: „Memoiren aus dem Bordell“. Die Andere Bibliothek bei Eichborn 1999, 399 Seiten, 49,50 DM