Unbotmäßiges aus der Wüste

■  Ein kleiner Nachrichtensender am Persischen Golf macht mit frechen Programmen dem öden Staatsfernsehen im Nahen Osten Konkurrenz. Die Regimes ärgert's – vergeblich

Kritischer Fernsehjournalismus hat in der arabischen Welt keine Tradition. Autokratische Herrscher wie Husni Mubarak in Ägypten, Hafis al-Assad in Syrien oder Saddam Hussein in Irak haben ihre Staatssender fest im Griff. Das politische Programm beschränkt sich auf Hofberichterstattung. Frischer journalistischer Wind weht derzeit aus einer Ecke, von wo ihn eigentlich keiner erwartet hatte.

Ausgerechnet Katar, das verschlafene arabische Wüstenemirat am Persischen Golf, ist Sitz eines Fernsehsenders, der sich kritisch die Missstände in der arabischen Welt vorknöpft. Al-Jazeera („Die Halbinsel“) heißt die TV-Station. Den langweiligen arabischen Staatssendern hat al-Jazeera eines voraus: ein unzensiertes Programm. Millionen sehen täglich per Satellit und Internet zu.

Das Motto des Senders ist schlicht. „Meinung und Gegenmeinung“ verspricht al-Jazeera seinen Zuschauern. Das ist fast schon revolutionär in einer Region, in der willfährige Staatssender allenfalls „Sprachrohre der Herrschenden“ sind, wie die Journalistenvereinigung Reporters sans frontières kritisiert.

Die New York Times feiert al-Jazeera als „Sensation“. Politische Themen, die in den meisten arabischen Ländern tabu sind, werden hier offen diskutiert: Demokratiedefizite, Menschenrechtsverletzungen, Religion, Fundamentalismus, die Lage der arabischen Frauen. Das nächste Tabu ist bereits anvisiert. Die Programmmacher planen, zukünftig verstärkt über Israel zu berichten, ohne die sonst in der Region übliche Polemik.

Politische Talkshows waren bislang im arabischen Fernsehen unbekannt. Al-Jazeera hat das geändert. In lebhaften Diskussionsrunden streiten sich Gäste über Politik und Gesellschaft. Der Sender versucht, den verschiedenen Strömungen in der arabischen Welt ein Forum zu bieten: Linken und Konservativen, Islamisten und Säkularisten, Regierungsvertretern und Dissidenten. Furore machte kürzlich eine Sendung, in der eine islamistische Schriftstellerin aus Ägypten während einer Livediskussion wütend aufstand und das Studio verließ. Bei einer Diskussion zum Thema Islam und Frauenrechte hatte sie sich mit einer linken jordanischen Parlamentsabgeordneten in die Haare gekriegt. Für arabische Verhältnisse ist so etwas unerhört.

„Bei uns können die Leute sagen, was sie wollen. Wir fühlen uns keiner Regierung verpflichtet“, so umschrieb der Moderator Achmad al-Shuli in einem Fernsehinterview das Konzept von al-Jazeera. „Manche lieben uns dafür, andere hassen uns. Nur ignorieren kann uns keiner.“

Die Nachbarländer reagieren gereizt auf so viel journalistische Freiheit. Als kürzlich ein Anrufer in einer Livesendung zum Sturz des kuwaitischen Herrscherhauses aufrief, schloss die Regierung in Kuwait vorübergehend das örtliche Korrespondentenbüro des Senders. Der Korrespondent wurde ausgewiesen. Auch das Büro in der jordanischen Hauptstadt Amman musste letztes Jahr für einige Monate dicht machen. Saudi-Arabien hat das Programm wiederholt als „gefährlich“ gebrandmarkt, saudische Religionsgelehrte werfen al-Jazeera einen „Angriff auf die arabische Moral“ vor. Doch nur wenige arabische Regierungen trauen sich, ihrem Volk den Empfang von Satellitenprogrammen zu verbieten.

Auch die US-Regierung ärgert sich über die Unbotmäßigkeit des kleinen Senders. Im Sommer hat al-Jazeera ein Interview mit dem Terroristenführer Usama bin Laden ausgestrahlt. Zum ersten Mal konnte die arabische Öffentlichkeit den bärtigen Guerillero im Gespräch auf dem Bildschirm erleben. Vor der Sendung hatten US-Diplomaten versucht, die Ausstrahlung zu verhindern. Al-Jazeera sendete trotzdem.

Viele der 90 Journalisten von al-Jazeera haben ihr Handwerk bei westlichen Medien gelernt. Als die britische BBC 1997 ihr arabischsprachiges Fernsehprogramm einstellte (Hintergrund war unter anderem politischer Druck aus Saudi-Arabien), übernahm al-Jazeera kurzerhand einen großen Teil der entlassenen Belegschaft.

Die Programmchefs von al-Jazeera kopieren viele erfolgreiche Formate aus amerikanischen Programmen. Die derzeit beliebteste Diskussionsrunde ist „al-Ittijah al-Mu'akas“ („Die entgegengesetzte Richtung“). Der Name spricht für sich. Jeden Dienstagabend werden hier zwei Gäste aus unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern von einem scharfzüngigen Moderator, dem Syrer Faisal al-Qasim, gegeneinander ausgespielt. Dafür stand die CNN-Sendung „Crossfire“ Pate. Sogar die Studiodekoration ähnelt dem Vorbild.

Diese Freiheiten kann sich al-Jazeera nur erlauben, weil der katarische Herrscher Emir Hamad bin Khalifa al-Thani seine schützende Hand über den Sender hält. Der reformorientierte Monarch kam vor vier Jahren durch eine Palastrevolte an die Macht. Die Zensurbehörde löste er auf. Gleichzeitig stellte er 140 Millionen US-Dollar für fünf Jahre zum Aufbau von al-Jazeera zur Verfügung. In einem Zeitungsinterview sagte der Emir, al-Jazeera solle der Region „mehr Sauerstoff zum Atmen“ geben. Vielleicht wollte er auch nur dafür sorgen, dass sein abgelegenes Reich in der Welt etwas bekannter wird. Peter Wütherich