Viel Anlass, wütend zu sein“

■  Nach dem Tod einer Lehrerin in Meißen empört sich die Nation über die angeblich steigende Gewaltbereitschaft der Jugend. Doch die ist recht friedfertig. Warum wundert sich eigentlich niemand, dass es nicht mehr Gewalt gegen Lehrer gibt?

taz: Wie viele Gewaltdelikte seitens der Lehrer gegenüber ihren Schülern gibt es in Berlin?

Sanem Kleff: Im letzten Schuljahr lagen etwa 300 Disziplinarfälle vor, bei denen Lehrern vorgeworfen wurde, im weitesten Sinne gewalttätig gegenüber Schülern gewesen zu sein.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass diese relativ hohe Zahl – sie übersteigt die der angezeigten Fälle von Schülergewalt gegenüber Lehrern um ein Vielfaches – in der öffentlichen Diskussion keine Rolle spielen?

Dieter Haase: Wenn wir überlegen, dass wir in Berlin über 35.000 Lehrkräfte haben, zeigt sich bei 300 Fällen, dass körperliche Gewalt von Lehrern die Ausnahmesituation ist.

Wir alle kennen das Bild des Lehrers als Tyrannen. Fast jeder hatte in seiner Schulzeit mindestens unter einem zu leiden. Weshalb gibt es so wenig Fälle von Tyrannenmord an den Schulen?

Kleff: Die Frage stelle ich mir auch manches Mal. Kinder und Jugendliche hätten ja sehr viel Anlass dazu, wütend und gewalttätig zu sein. Es ist erstaunlich, dass in den letzten zehn Jahren in einer Stadt wie Berlin kein einziger schwerer Angriff auf Lehrer stattgefunden hat.

Haase: Vielleicht gibt es an der Schule nicht mehr die Tyrannen, sondern nur noch einzelne, deren Wirkung durch das Wirken der anderen Lehrer kompensiert wird.

Vor zwanzig Jahren wurde zumindest im Westen über die Schule als Teil der strukturellen Gewalt diskutiert, über Leistungsdruck und die fatale Rolle repressiver Lehrer bei der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler. Heute beherrscht die vermeintliche Gewalttätigkeit der Schüler den Diskurs. Wie kommt's?

Kleff: Das ist ein Phänomen, das man nicht nur in der Debatte um die Schule beobachten kann. Ende der 90er Jahre haben wir ein gesellschaftliches Klima, wo es weniger „in“ ist, darüber nachzudenken, wie Hierarchien abgebaut werden können und eine sozial gerechtere Gesellschaft erreicht werden kann. Die Bildungsdiskussion ist in den letzten Jahren maßgeblich geprägt von Begriffen wie Qualitätskontrolle, Normierung, Standardisierung, Quantifizierung. Die Suche nach einer Gesellschafts- und auch Schulstruktur, die egalitärer ist, die Chancengleichheit stärker in den Vordergrund stellt, ist nicht mehr so präsent wie vor ein paar Jahren. Die GEW steht mit ihren Forderungen in diese Richtung häufig als einsame Ruferin in der Wüste da.

Haase: Pädagogen fordern seit Jahren eine Schulreform. Sie findet nicht statt, und es wird über die Einführung der Kopfnoten diskutiert und das ständische Schulsystem, also die Dreigliedrigkeit, gefördert. Es geht in Richtung Bewahren alter Traditionen, die angeblich besser sind.

Die Familien und sozialen Milieus verlieren an Bindungskraft, Väter als positive Identifikationsmodelle fehlen immer mehr, und die flexible Gesellschaft macht das persönliche Scheitern zur drohenden alltäglichen Erfahrung. Nach allen Regeln der Psychologie müsste es ständig krachen. Weshalb sind die Jugendlichen und Schüler so friedlich?

Kleff: Offensichtlich muss man dieser Gesellschaft zugute halten, dass sie eine bestimmte zivilisatorische Entwicklung hinter sich, einen gewissen Standard verinnerlicht hat, der Auswirkungen hat auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen. So wissen wir zum Beispiel, dass in Ortschaften mit zivilgesellschaftlichen Defiziten Jugendliche in weit höherem Maße gewalttätig sind als andernorts. Da sehe ich große Defizite – auch in der Schule.

Haase: Im Osten hat man sich nach der Wende natürlich auch mit dem Problem der Gewalt an Schulen auseinandersetzen müssen. Die Lehrer standen vor dem Problem, dass sie damit nicht umgehen konnten, weil es diese zuvor nicht gab. Die Fortbildungen, die stattgefunden haben, tragen inzwischen Früchte.

Kleff: Aber die beste Fortbildung nützt den Kollegen nichts, wenn ihnen Rahmenbedingungen vorgegeben werden, in denen es nicht umsetzbar ist, wenn zum Beispiel in einer Klasse statt 20 irgendwann 40 Schüler sitzen. Immer dann, wenn wir Lehrer dieses erwähnen, werden wir milde belächelt, als würden wir all das nur anführen, weil wir zu bequem seien. Es wird nicht der Zusammenhang gesehen zwischen der Verschlechterung der Rahmenbedingungen und dem, was den Kindern abgeht an Zeit und Zuwendung. Und Zuwendung ist immer noch das Mittel, das am besten gegen Gewaltbereitschaft wirkt.

Im Westen wird seit über zehn Jahren heftig über das Thema Gewalt an der Schule debattiert. Hat das etwas gebracht?

Kleff: Jein. Es gab drastische Mittelkürzungen in den Bereichen, in denen es möglich war, näher an Schüler in strukturschwachen Regionen heranzukommen, um auch über den Unterricht hinaus im weitesten Sinne sozialarbeiterisch tätig zu werden. Parallel dazu gibt es eine positive Entwicklung, die eher aus der Lehrerschaft kommt, nämlich ein Bemühen, nach Konzepten zu suchen, die eine ganz andere, positive Schulkultur implantieren. Dort, wo das passierte, können wir empirisch beobachten, dass die Gewaltbereitschaft drastisch gesunken ist.

Einer der vornehmeren Aufgaben der Lehrer besteht ja darin, in einem selbstkritischen Prozess sich mit dem eigenen autoritären Charakter auseinanderzusetzen und an sich zu arbeiten, um ein guter Pädagoge zu werden. Diesen Prozess gab es im Westen in der Vergangenheit auf breiter Front. Wie weit erfolgte er auch im Osten?

Haase: Diesen Prozess hat es auch in der DDR, zumindest auf individueller Ebene, gegeben.

Kleff: Das sehe ich anders. Im Westen wurden diese Debatten in den 60er und 70er Jahren flächendeckend geführt. Eine derartige Debatte hat es bislang im Osten nicht gegeben. Auch ist die Erfahrung, sich selber in Frage zu stellen, als kollektiver Prozess eines Berufsstandes eher fremd. Wenn, dann hat das jeder für sich selbst gemacht. Da fehlt etwas. Ich merke das bei Fortbildungen, dass sich die Kollegen schwer damit tun, an sich selbst ran zu gehen.

Was fällt Ihnen zu dem Satz ein: Die Würde des Schülers ist unantastbar.

Kleff: Im Schulgesetz steht an erster Stelle, dass Schule das primäre Ziel hat, Menschen zu demokratischen, gleichberechtigten Wesen einer toleranten, offenen Gesellschaft zu erziehen. Das ist der Hauptauftrag von Schule. Vieles wirkt dem in der Praxis leider entgegen. Interview: E. Seidel