Immer mehr überleben die Infektion – bei uns

■ Die Erfolge in der Aidstherapie führen zu Finanznot bei den Hilfsorganisationen

Die Krankheit hat ihren hysterisierenden Schrecken verloren. Aidsplakate an Litfasssäulen werden ebenso routiniert zur Kenntnis genommen oder ignoriert wie andere Reklameposter auch. Jedes Kind scheint inzwischen zu wissen, dass Sex ohne Kondom riskant sein kann. 91 Prozent der Jugendlichen geben bei Befragungen an, Aids sei ein Thema im Unterricht gewesen. Dennoch warnte gestern Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, vor einer Stimmung der routinierten Anteilnahme: „Wir beobachten ein gewisses Nachlassen der Aufmerksamkeit.“ Gesundheitsministerin Andrea Fischer von den Grünen hieb in die gleiche Kerbe: „Wir müssen über Aids reden, ohne falsche Ängste zu wecken.“

Tatsächlich sind die Befürchtungen vor der sexuell inspirierten Epidemie nie auch nur ansatzweise eingetroffen. 319 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 19 Jahren sind in Deutschland seit der Entdeckung von Aids daran auch erkrankt, zumeist Drogenabhängige oder Bluter, die sich an viruslastigen Nadeln oder mit kontaminiertem Blut infiziert haben. Das war und ist tragisch für die Betroffenen, die in ihrer Gesamtzahl aber weit weniger sind als beispielsweise jene, die im gleichen Alter an Krebs erkranken.

Auch unter Schwulen gibt es niemandem mehr, der sich nicht mit der Chance, sich beim Sex ohne Kondom anzustecken, auseinandergesetzt hat. Das Gummi ist zum obligatorischen Accessoires beim Analverkehr geworden. Und wer sich nicht daran hält und sich, wie das Berliner Szeneblatt Siegessäule berichtet, auf das sogenannte „Barebacking“ (Ficken ohne Schutzhülle) einlässt, weiß, was er tut: sexuelles Roulette bei vollem Bewusstsein.

Binnen weniger Jahre wurde so eine ganze Gesellschaft wie die bundesdeutsche auf einen neuen sexuellen Kodex verpflichtet. Die gelungene Präventionsarbeit hatte allerdings fatale Folgen für die Aufklärer selbst: Die finanziellen Mittel wurden eingeschränkt. Die Aidshilfen müssen mit weniger Personal auskommen. Und eben dies passt nicht zum Erfolg der Mühen: Durch die Entwicklung neuer Komplexpräparate sterben immer weniger Menschen, die sich mit dem HI-Virus angesteckt haben. Doch sie sind in ihrer Arbeitskraft eingeschränkt, haben oft Beschwerden im Alltag, die sie nur bewältigen, wenn ihnen Hilfe zur Verfügung steht. Das Leben mit dem Virus ist objektiv ein Geschenk und zugleich oft eine Last.

Die Deutsche Aids-Stiftung, die am vorigen Wochenende bei einer Gala in Berlin gerade erst 700.000 Mark an Spendengeldern einsammeln konnte, muss mehr und mehr Finanzen für Menschen bewilligen, die eine Infektion zumindest mittelfristig überleben. Diese Gelder werden weiter fehlen, denn auch sonstige Benefizaktivitäten in Sachen Aids kosten mehr, als sie einbringen: Aids hat seinen Schrecken verloren. Im gesellschaftlichen Maßstab furchterregend ist die Immunschwäche in Afrika. Doch für Afrika Spenden zu akquirieren ist fast unmöglich: „Schwarze eignen sich einfach nicht so gut, Mitleid zu wecken“, so gestern ein Fundraiser von Caritas. Jan Feddersen