■ Das Bildungssystem in Deutschland versagt immer mehr. Neue Formen des praxishaltigen Lernens sind heute mehr denn je nötig
: Vom Belehren zum Lernen

Für jeden zweiten Abiturienten hierzulande ist die Schule bloß noch Nebenberuf

Vor zwei Jahren hallte durch die Republik der Aufschrei der Erstsemester: „Das kann doch wohl kein Studium sein?!“ Vorlesungen, zu denen man am besten ein Opernglas mitnimmt. Gedrängel und verwahrloste Räume. Absurdes Wettschreiben mit den immer zu schnell ihre Skripte vortragenden und dann flugs verschwindenden Professoren. Die Erstsemester wollten studieren, die meisten jedenfalls, und gerieten in ein routiniertes Scheinstudium. Das kurze Fest des Protestes ließ eine vage Idee von Universität und Studium aufleuchten, dann verblasste die Vision. Die Öffentlichkeit einigte sich darauf, dass mehr Geld für die Bildung nötig sei. Zustimmung kam von überall, aber es folgten weder Ideen noch Handlungen. Nach ein paar müden Strategie- und Grundsatzdebatten in halb leeren Hörsälen kam Weihnachten, und im neuen Jahr wollte man nun doch seine Scheine retten. Außerdem wussten inzwischen die Studierenden, dass sogar zusätzliche Milliarden die Unis nicht auf die Höhe der Zeit bringen können. Manche begannen sich zu fragen: Was macht die Unis so müde und bleiern? Oder: Wie könnte Lernen zur Vorfreude auf sich selbst werden? Achselzucken in den hohen Schulen, die zu Flachschulen geworden sind. So regiert seit dem letzten Aufbruch der Zynismus souveräner denn je: schnell die Scheine machen; sich um den Nebenjob kümmern; bloß kein Semester verlieren; nichts wie weg.

In diesem Wintersemester hat sich bisher nur einer mit vernehmbarem Widerspruch gemeldet, der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen. Er kritisiert die „eher schmalen Zuwendungen“ des Staates. Nur 1,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gibt Deutschland seinen Unis. Kanada und die USA bringen es auf 2,5 Prozent. Dafür arbeiten immer mehr StudentInnen neben dem Studium: inzwischen 67 Prozent. Das Auswandern aus dem Hörsaal in den Job ist vor allem Resultat des Bafög-Skandals. Seit 1991 hat sich die Zahl der Bafög-Empfänger halbiert. Im vergangenen Jahr waren es nur noch 334.000 von annähernd zwei Millionen Studierenden. In den Job weichen sie allerdings liebend gerne aus, weil den Lehranstalten der Abschied von der tristen Einwegkommunikation der Belehrung nicht gelingt.

Ein ähnliches Bild bieten Schulen. Schon ein Blick in Schülergesichter zeigt, dass sich die meisten dort irgendwie fehl am Platz fühlen. Befunde der Lernforschung belegen diesen Eindruck. Die Hirnaktivität von Schülern, fand eine kanadische Studie, ist den ganzen Tag lang nie schwächer als während des Unterrichts. So wandern auch die Schüler klammheimlich aus. Der bayerische Philologenverband alarmiert jetzt: Ein Drittel der älteren Gymnasiasten jobbt. Für jeden zweiten Abiturienten sei die Schule bloß noch Nebenberuf. Warum? Gewiss, sie jobben, um Geld zu verdienen, aber sie suchen auch nach folgenreichem Handeln, vor allem nach Resonanz, und die finden sie eher außerhalb der Schule als in den weltlosen Klassenräumen, aus denen alles Handeln verbannt ist. Deutschlehrer könnten ihren Kollegen den Missmut der Schüler erklären: „Der Mensch ist nicht zum Vernünfteln, sondern zum Handeln auf der Welt“, schrieb Lessing.

Die Monologe der Theorie stammen aus theologischer Tradition. Sie schreiben der Welt vor, wie sie sein soll, statt sie genau zu beobachten. Praxis galt ihnen wie die verfluchte Erde als minderwertig gegenüber dem Himmel der Ideen, in den man kommen wollte, so oder so. Aber die pastoralen Monologe und die ihnen nachgebildeten Institutionen sind erschöpft. Der letzte Aderlass war das Jahr 1989. Große Reden über die Welt wirken immer merkwürdiger. Aber das Sprechen in der Welt haben wir nicht kultiviert. Das ist der Nullpunkt, auf den eine neue Bildungspraxis verwiesen ist.

Immerhin geht an den Rändern der großen Aggregate des Bildungssystems manche Sonne auf. Ein viel versprechendes pädagogisches Projekt ist die nach dänischem Vorbild arbeitende Produktionsschule in Hamburg. Sie versteht sich als Unternehmen. Zusätzlich zur staatlichen Finanzierung und zu Spenden der Zeit-Stiftung muss sie Einnahmen erwirtschaften. Das will sie auch, denn es bringt Schwung in „Lernlokale“, in denen Schüler Projekte entwickeln und Produkte herstellen, um sie zu verkaufen. Für die Schüler ist der Markt ein Tor zur Welt. Bei Pädagogen jedoch kommt Misstrauen auf, sobald Geld im Spiel ist. Nur: Ohne Geld, die übergreifende Währung des Tauschens und Anerkennens, geht es nicht.

Zwischen Schulen und Unternehmen verlief bisher eine verminte Demarkationslinie. Pädagogen hatten an ihr das Schild aufgestellt, „Hier verlassen Sie den Selbstverwirklichungssektor der Gesellschaft“. Wirtschaft galt als kontaminierte Zone. Doch ausgerechnet die andere Seite kommt in Bewegung. Zum Beispiel die berufliche Bildung bei Volkswagen. Dort wird seit dem neuen Lehrjahr die Berufsausbildung „vom Kopf auf die Füße gestellt“. So sieht es Peter Haase, Chef der „VW Coaching Gesellschaft“, die die Bildungsaktivitäten im Autokonzern bündelt. Die Ausbildung wird von den Lehrwerkstätten in die Produktion verlagert. Dort werden Lerninseln eingerichtet. Auf ihnen wird produktiv gearbeitet. Dafür steht viel Zeit zur Verfügung. Lernen braucht Nähe und Distanz zum Handeln. Es besteht aus Experimenten, Umwegen und Fehlversuchen. Wenn Lerninseln allerdings zu eigenen Kontinenten angewachsen sind, die vom Strom der Erfahrungen fernhalten, dann hindern sie am Lernen. Zum Belehren taugen sie umso besser. Aber Belehrtwerden ist das Gegenteil von Lernen.

Der Anteil nicht lernhaltiger Arbeitsabläufe liegt bei VW unter 10 Prozent

Lerninseln bei VW sind keine Wissenstankstellen nur für Lehrlinge. Dort soll sich die Intelligenz der Praxis regenerieren. Von ihnen soll ein Sog zur stärkeren Selbstorganisation der Arbeit ausgehen. Denn der Anteil „routinierter, nicht lernhaltiger Arbeitsabläufe“ ist bei VW auf unter 10 Prozent gesunken. Lernen gibt sich immer deutlicher als das zu erkennen, was es immer war, ein rekursiver Vorgang, in dem Handelnde sich selbst beobachten und verändern – wie Kinder und wie Forscher. Lernen ist eine Spirale, die aus der Praxis wieder zurück in die Praxis führt. In ihren Windungen verbindet sich die Begeisterung für die Welt mit der Aussicht auf eine eigene Biographie. In der Vergangenheit wollte man diese Spirale geradeziehen. Die rückbezüglichen Schleifen sollten isoliert und in eindeutige, kausal verbundene Sequenzen zerlegt werden. Der Mythos lautete: Man lernt, indem man das Richtige gesagt bekommt. Jetzt verglühen die lang angebeteten Sterne am Himmel der Theorie. Wir müssen uns, wie der geniale George Spencer-Brown in seinen „Laws of Form“ schrieb, „dem Leichentuch der Lehre entwinden“. Das Motto für Auszubildende bei VW heißt bereits: „Welches Wissen brauche ich?“ „Was will ich?“ Die Produktions- und Lernlogik eines noch längst nicht an sein Ende gekommenen Kapitalismus weist weit über seine Verwertungslogik hinaus. Bisher schien Wissen umso unwiderstehlicher, je kontextfreier es war. Nun werden die Würde und Klugheit der Praxis wieder entdeckt. Allerdings tun sich mit dem Übergang von der Belehrung zum Lernen Ausbilder häufig schwer. Wie Lehrer leiden sie am Verlust der Priesterrolle, in der sich Wissen ohne Erfahrung, Lehre ohne Forschung, Theorie ohne Praxis predigen ließ.

Eine neue Universität muss die Studierenden vom ersten Tag an in Forschungsprojekte einbeziehen, verlangt Michael Daxner. Zwölf Jahre war er Uni-Präsident in Oldenburg, nun sammelt er Mitstreiter und Geld, um eine bestehende Uni umzugründen. Diese neue Uni soll ein öffentlich-rechtliches Unternehmen werden. Lernen wäre darin ein Selbstversuch aller Beteiligten. Mehr denn je gilt, dass Information tot ist, wenn ich nicht weiß, was ich damit will. Etwas zu wollen, das ist alles andere als trivial. Aber es wurde in der ersten industriellen Moderne nicht zuletzt in Schulen und Universitäten abtrainiert. Nun macht es den Unterschied aus, auf den es beim Schritt in eine zweite Moderne ankommen wird. Schulen und Unis indes verabreichen immer noch Wissen wie Prothesen. Auf Prothesen zu verzichten ist so schwer, weil sie Sicherheit versprechen. Also käme es darauf an, in tieferen Schichten der Personen Selbstsicherheit und zwischen ihnen Verlässlichkeit so zu stärken, dass sie die lustvolle Unsicherheit des Lernens nicht länger meiden. Das ist die Hauptaufgabe einer Bildung der Zukunft. Reinhard Kahl