Argumente gegen den Kapitalismus

■  Straßenschlachten zum Auftakt der Welthandelskonferenz in Seattle. Bürgermeister verhängt nächtliche Ausgangssperre in der US-Stadt. Größte Proteste seit den Vietnam-Demonstrationen der Sechzigerjahre

Washington (taz) – Gewaltsame Proteste gegen die Globalisierung haben am Dienstag den Auftakt der Welthandelskonferenz in der US-Metropole Seattle gestört. Im Anschluss an einen friedlichen Marsch von etwa 40.000 Gegnern der WTO-Tagung störten militante Demonstranten die Anfahrt der Konferenzteilnehmer, indem sie Straßenkreuzungen blockierten und sich aneinanderketteten.

Weder UN-Generalsekretär Kofi Annan noch US-Außenministerin Madeleine Albright gelang es, zum Konferenzzentrum durchzukommen, in dem vier Tage lang 135 Nationen über die weitere Senkung von Handelsbarrieren beraten. US-Außenhandelsbeauftragte Charlene Barshefsky konnte nicht einmal ihr Hotel verlassen, weil es, wie die meisten in der Innenstadt, von Demonstranten umstellt war. Die Polizei ging mit Tränengas vor. Anschließend kam es zu schweren Straßenschlachten mit der Polizei, die mindestens 60 Personen festnahm.

Konferenzpräsident Mike Moore sagte die Eröffnungsfeier ab und forderte von allen Beteiligten Zurückhaltung. Die Demonstranten könnten jetzt nach Hause gehen, sie hätten ihren Standpunkt deutlich gemacht. Seattles Bürgermeister verhängte ein nächtliches Ausgehverbot – nicht ohne vorher beteuert zu haben, dass er selbst ein Kind der 60er-Jahre sei und die Demonstranten verstehe. Auch US-Präsident Clinton äußerte Verständnis für die Ziele der Demonstranten, glaubte aber, dass die eher durch den Abbau von Handelshemmnissen erreicht würden.

„The battle of Seattle“ war die größte Demonstration seit den Tagen der Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamproteste. „Es ist unglaublich, dass die Frage des Welthandels derart viele Menschen aus so unterschiedlichen sozialen Bewegungen zusammenführen kann“, erklärte Bill Guthrie, ein 28-jähriger Rohrleger, der Los Angeles Times. „Das ist keine Frage von rechts oder links, sondern von unten und oben.“ An einer Schaufensterscheibe prangte der Spruch: „Ich weiß nicht, was eine WTO ist, aber ich hasse reiche Leute.“ Überhaupt waren Schaufensterscheiben Ziel des Zorns. Unter Schmährufen warfen vermummte Aktivisten unter anderem bei der Firma Nike die Scheiben ein, die zu Billiglöhnen in der Dritten Welt produzieren lässt.

Seit September wird in den US-Medien über das Für und Wider liberalisierten Welthandels debattiert und über die Vorbereitungen von Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in Seattle berichtet, wo Trainingslager wie zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung stattfanden. „So heftig umstritten die Vor- und Nachteile eines liberalisierten Welthandels sind – letztlich wird es zu keiner Ausweitung kommen, wenn die Idee des Welthandels ihre Mehrheit verliert“, sagte Charlene Barshefsky. Entsprechend drängt die US-Delegation nicht nur auf den Abbau der Agrarsubventionen in der EU, sondern auf die Einrichtung einer Arbeitsgruppe über internationale Arbeitsrechte.

Gegen Ersteres stellt sich die EU, gegen Letzteres wehren sich die Vertreter der Entwicklungsländer. Wenn die Tagung in Seattle ohne Ergebnisse endet, dürfte das nicht nur und nicht einmal in erster Linie an den Demonstrationen auf den Straßen der Stadt gelegen haben. Peter Tautfest

Tagesthema Seite 3