Praktische Politik statt Mathe

■ 500 Schüler gehen nach einem Vortrag über den in den USA zum Tode verurteilten Mumia Abu-Jamal spontan auf die Straße

Ein ganz normaler Schultag sollte es gestern sein am Kreuzberger Hermann-Hesse-Gymnasium. Doch etwa ein Drittel der Schüler bleibt dem Unterricht fern. Sie beteiligen sich lieber an einer – zur Überraschung der Schulleitung angebotenen – Alternativveranstaltung, organisiert vom Zusammenschluss „Schüler aktiv für Mumia“. Die Gruppe informiert über den Fall des schwarzen US-Journalisten Mumia Abu-Jamal, der wegen eines umstrittenen Mordvorwurfs zum Tode verurteilt worden ist. Daraufhin rufen die Gymnasiasten den Streik aus und erklären ihre Schule für „besetzt“.

Zeitgleich lassen auch Schüler der Lina-Morgenstern-Schule in der Kreuzberger Gneisenaustraße den Unterricht sausen, um gegen das Todesurteil zu protestieren. Mit den Parolen „Freiheit für Mumia Abu-Jamal, der Kampf um Befreiung ist international“ und „USA – Hände weg von Mumia“ formiert sich dann ein gemeinsamer Demonstrationszug. Die 18-jährige Jenny Kohlhas beispielsweise, Schülerin des Hermann-Hesse-Gymnasiums, ist dabei: Die Deutsche Regierung, fordert sie, müsse Druck auf die USA ausüben, „damit das ungerechte Todesurteil aufgehoben wird“.

Gegen halb zehn bemerken Beamte den, so ein Polizeisprecher, „ungemeldeten Aufzug“. Doch die Demo löst sich schon bald wieder auf. Knapp zwei Stunden später formiert sie sich neu – diesmal mit dreimal so viel Teilnehmern wie zuvor, etwa 500. Woher die vielen Protestierer kommen, darüber hat die Polizei „keine Erkenntnisse“.

Der Direktor der Kreuzberger Carl-von-Ossietzky-Schule, Gerhard Rähme, hingegen weiß es. Teilweise sind es Schüler seiner Lehranstalt. Jugendliche anderer Schulen hätten das „Gebäude gestürmt, den Unterricht behindert und die Feuerschutzanlagen demoliert“. Weniger als 100 seiner Schützlinge schließen sich daraufhin den Protestierern an, die zuvor bereits an der Leibnizschule um Mitstreiter geworben haben. „Teilweise“, so berichtet der Schüler Markus Jordan (18), „haben die Lehrer unser Anliegen unterstützt“. Andere jedoch hätten die Klassenräume verschlossen, um das Ausbüchsen der Schüler zu verhindern. Erfolglos: Die Aufrufe der Streikenden bewegen Etliche zum Mitgehen – Editana Melion zum Beispiel. „Was mit Mumia Abu-Jamal gemacht wird, ist nicht nur ungerecht, sondern sogar Menschen verachtend“, begründet die 18-Jährige ihre Schulschwänzerei für die politische Sache.

Zumindest an der Carl-von-Ossietzky-Schule drohen den Schülern keine Sanktionen. „Wir müssen pädagogisch darauf reagieren“, meint Direktor Rähme auf Anfrage der taz. Den Schülern, so des Rektors Wunsch, solle vermittelt werden, „dass es nichts nützt, hier einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen“ – egal, wie berechtigt ihr Anliegen auch sei.

Für den Schüler Markus Jordan ist der spontane Schulstreik nur ein erster Schritt, um die Exekution des Todesurteils gegen Abu-Jamal zu verhindern: „Wir müssen direkt vor den diplomatischen Vertretungen demonstrieren, damit die US-Regierung die internationalen Proteste nicht einfach ignorieren kann.“ Dirk Hempel