Albtraum in PalColor

■ Eindringlich beängstigend: „Tatort: Martinsfeuer“ (So., 20.15 Uhr, ARD)

Michael fürchtet sich. Der alte Stollen ist dunkel und unheimlich. Von einem Moment auf den anderen waren die Stimmen der anderen Kinder verstummt, Michael hat den Anschluss an seine Bande verloren. Als endlich ein greller Lichtschein ins Bild kommt, wird der Albtraum Realität. Das Kind blickt dem Tod in die Augen ...

Das WDR-Team Ballauf und Schenk müssen in „Martinsfeuer“ einen Kindsmord aufklären. Die Kommissare suchen die Vorortsiedlung nach Verdächtigen ab und finden in fast jeder Wohnung Anzeichen sozialer Verwahrlosung: Marions vom Leben überforderte Mutter (Katharina Thalbach) trinkt, das Zuhause des kleinen Augenzeugen Mirko ist trostlos. Nur widerwillig kümmert sich seine ältere Schwester (Cosima Hagen) um den Kleinen, die Mutter schiebt Nachdienst im Billardsalon. Auch die jungen Eltern des toten Michael haben ihren Jungen allzu oft sich selbst überlassen. Die soziale Verelendung hat ein Symbol: Wo Ballauf und Schenk hinkommen, müssen sie erst einmal den Fernseher ausmachen.

Selten erzählte ein „Tatort“ seine Geschichte so dicht und suggestiv wie dieser. Mit den Augen der verängstigten Kinder verfolgt die Kamera die Szenerie, allgegenwärtig scheint die Bedrohung durch den unbekannten bösen Mann. Kindliche Fantasie, erwachsene Projektion und reale Gefahr mischen sich zu einem beunruhigenden Vexierbild, das bis zum Schluss nicht preisgibt, wer warum den Mord an dem unschuldigen Kind begangen hat. Ein kindlicher Albtraum in PalColor.

Studien über die Wirkung medialer Gewalt haben gezeigt, dass Kinder ganz eigene Beurteilungskriterien für Gewaltdarstellungen haben. Kleine Fernsehzuschauer identifizieren sich zumeist mit den gezeigten Kinderschicksalen, selbst wenn diese nur am Rande der Handlung stehen. Es ist anzunehmen, dass dieser „Tatort“ aufgrund seiner Erzählperspektive auf Kinder äußerst beängstigend, vielleicht sogar traumatisierend wirkt. Und es ist anzunehmen, dass viele Kinder (auch nicht sozial verwahrloste!) am Sonntag kurz nach acht noch einen Blick auf die albtraumhafte Eingangsszene werfen können, in der das Tötungsdelikt zwar nach allen Regeln des gesetzlichen Jugendschutzes nicht gezeigt, aber doch eindrücklich geschildert wird.

Es ist aberwitzig: Dieser „Tatort“ plädiert mit derartiger Eindringlichkeit für eine kinderfreundlichere Welt, dass Kinder vor ihm dringend gewarnt werden müssen. Klaudia Brunst