Der Aufbruch kam nur zu Besuch

Zusammenstoß zweier Welten: Zu seinem dreißigsten Jubiläum hatte sich der in Ehren ergraute Deutsche Schriftstellerverband die junge Autorengeneration nach Köln eingeladen. Allerdings brachte der Nachwuchs nicht nur Glückwünsche mit  ■   Von Volker Weidermann

Zum dreißigsten Geburtstag zeigte sich die Wirklichkeit noch einmal von ihrer freundlichen Seite. Fred Breinersdorfer, der Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbandes (VS), trat am Samstagmorgen aufs Podium und erklärte: „Für alle, die noch keine Nachrichten gehört haben: die WTO-Verhandlungen in Seattle sind ergebnislos abgebrochen worden.“ Die Delegierten freuen sich. Zwei Tage zuvor hatten sie in einer Resolution den Abbruch der Verhandlungen gefordert: Die Welt richtet sich nach den Beschlüssen des VS. Wie lange hatte es das nicht mehr gegeben.

Doch einen Aufbruch, wie ihn das Motto „Bücher – Brüche – Aufbrüche“ zur Jubiläumsfeier des Verbandes ausgerufen hatte, nein, einen Aufbruch brachte solche Wunscherfüllung noch nicht mit sich. Eher melancholische Erinnerungen an Zeiten, als der VS noch der Schriftstellerklub war, in dem hart um den richtigen Weg zum Sozialismus gerungen wurde und der Gang der Welt ganz entscheidend von den Vorstellungen der Schriftsteller abzuhängen schien. Trotzdem fand in diesen drei Tagen, die man in Köln diskutierte und feierte, doch eine Art Aufbruch statt. Aber der kam nicht aus der Mitte des Verbandes, sondern von einer recht fremd anmutenden Außenwelt, von der jüngeren deutschen Schriftstellergeneration, die man eingeladen hatte, um über den letzten Stand der Literatur zu diskutieren.

Nun, diskutieren ... Es war der Zusammenstoß zweier Welten, die hier im Kölner Gürzenich, wo Heinrich Böll vor dreißig Jahren seine flammende Rede vom „Ende der Bescheidenheit“ gehalten hatte, erstmals aufeinander trafen. „Ja, Ende der Bescheidenheit“, meint Felicitas Hoppe zustimmend auf einer Diskussionsveranstaltung am Eröffnungsabend, „das würde heute jeder ausrufen.“ „Vielleicht“, antwortet Günter Grass, „aber jeder nur für sich.“ Und er beklagt die Tendenz unter den jungen Schriftstellern zum Egozentrismus und neuen Genieposen: „Wir hätten uns damals lachhaft gemacht, wenn wir so aufgetreten wären.“ Die Gemeinschaft der Einzelgänger, wie das Motto der Gründungsveranstaltung gelautet hatte, „die gab es damals wirklich“, meint Grass, der auch schon seit zehn Jahren nicht mehr Mitglied ist. Hoppe, die sich selbst als VS-„Karteileiche“ bezeichnet, hält dem die Existenz einer großen Zahl von Autorennetzwerken entgegen.

Doch Grass, der kurz davor in einem Interview seine Sorge verkündet hatte, dass an Literaten, die den Mund aufmachen, „nichts nachwächst und uns ablöst“, kann damit gar nichts anfangen. Er spricht lieber von der Springer-Presse, die man weiter boykottieren müsse und dass die Tendenz zum Individualismus „offiziell gefördert wird“. Von wem? „Von den Feuilletons.“ Doch da reicht es Felicitas Hoppe dann irgendwie. Sie erklärt, dass ihre Altersgenossen noch heute mit dem aufgeklärten Despotismus der Generation Grass zu kämpfen habe und dass bei ihnen immer noch das Gefühl vorherrsche, nie aus der Schule zu kommen. „Da hat es einen Bruch gegeben, der in eine bestimmte Form des Unverständnisses mündete. Das hat mit Geniekult nichts zu tun.“

Hatte Bundespräsident Johannes Rau Ähnliches gemeint, als er in seiner Eröffnungsansprache, Ingeborg Bachmannn zitierend, das dreißigste Jahr ein Jahr der Lebenskrise nannte, dem Verwandlung und Veränderung folgen müsse? Rhetorisch fragte er: „Müssen wir wirklich das Ende der engagierten Literatur beklagen?“, und er erklärte, in Büchern nicht belehrt werden zu wollen: „Zeigefingerliteratur hat nur eine kurze Halbwertszeit.“ Ja, vor dreißig Jahren sei es für Minderheiten noch schwer gewesen, öffentlich hörbar zu werden, und damit seien der Literatur auch andere Aufgaben zugefallen. Heute dagegen gebe es kaum noch Meinungen, die nicht zu Wort kommen. „Junge Leute wissen gar nicht mehr, was wir damals mit Gegenöffentlichkeit gemeint haben.“

Aber die Alten wissen es noch, und einige von ihnen wurden nicht müde, solches in den Büchern der jungen Garde einzufordern: „Das sind doch alles Miniprobleme im Vergleich mit dem Faschismus“, hieß es in einer Diskussionsveranstaltung mit Thomas Brussig zum Thema Roman. „Nabelschau“, „nicht wirklich essenziell“, das sind so die Vorwürfe, die der jungen Literatur gemacht wurden. Ein Herr mit lichtem weißem Haar forderte, man müsse endlich einen Roman über das KZ Gragujevac schreiben. Brussig wies all dies mit höflicher Bestimmheit zurück: „Es steht jedem frei, das Buch zu schreiben, das er für nötig hält.“ Politisches Sprachrohr wolle eben nicht jeder werden. Und es sei auch nicht jedem gegeben. „So einer wie Grass ist da auch ne wirkliche Begabung.“

Brussig wehrt sich gegen den Vorwurf, dass die Jungen alle leicht schrieben. „Es ist nur so, dass wir uns wieder für die Welt interessieren.“ Gleichzeitig gibt er aber zu, bei seinem neuen Buch „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ ein leicht schlechtes Gewissen zu haben. Ob der Harmlosigkeit und den idyllischen Farben, in denen die DDR dort gezeichnet wird. Wenn einer wie Erich Loest, der über sieben Jahre in Bautzen inhaftiert gewesen ist, jetzt zu ihm käme und sagte: „Junge, so jet et nicht“, „dann würde ich auch noch mal in mich gehen.“

Martin Hielscher würde da vielleicht nicht noch mal in sich gehen. Hielscher, Lektor für das deutschsprachige Programm bei dem Verlag Kiepenheuer & Witsch und damit Betreuer von Autoren wie Benjamin Lebert und Benjamin von Stuckrad-Barre, ist so etwas wie der Propagandist der neuesten deutschen Literatur. Er prangert die freudlose Literatur von früher an (von der er Grass allerdings ausdrücklich ausnimmt), nennt es „Teil des deutschen Selbsthasses“, so lustfeindlich zu schreiben, und erklärt, diese Literatur sei „endgültig ins Hintertreffen“ geraten. Heute mache es wieder „richtig Spaß, was da geschrieben wird“. Und er behauptet sogar, dass der Erzählfaden von jener Schreibergeneration absichtlich zerrissen wurde, „um aus dem biografischen, familiären Zusammenhang einfach auszusteigen“. Das heißt, man hat sich dem Erzählen von Geschichten verweigert, um so die eigene Geschichte zu verdrängen. Eine starke These, die merkwürdigerweise unwidersprochen blieb.

Doch auf anderen Podien gab es noch andere Töne. Die Sachbuchdiskussion etwa mit Günter Wallraf und Daniela Dahn, dem Verleger Christoph Links und dem Autor der „Globalisierungsfalle“, Hans-Peter Martin, war noch von dem Willen nach dem guten, alten politisch engagierten Sachbuch geprägt. Hier herrschte Einigkeit, dass man mit Büchern das „öffentliche Bewusstsein verändern kann und muss“ und dass es gilt, „Wut zu erzeugen“. Es gab schöne Sätze zu hören, wie „Wir sollten nicht auf Wellen warten, sondern Wellen auslösen“ und „Herrschende Trends haben mich immer einen Scheißdreck interessiert.“ Zum Bundeswehreinsatz im Kosovo brauchte man auch nicht die Frage pro oder contra zu diskutieren, sondern fragte gleich: „Wie konnte es nur dazu kommen?“ Scheinbar ungebrochene Selbstgewissheit. Doch eben nur scheinbar. Je öfter Günter Wallraff von der „formierten Gesellschaft“ sprach, die „etwas ganz Verkommenes, innerlich Verfaultes und Korruptes“ sei, und seine Gewissheit betonte, dass die große Veränderung überfällig sei, desto mehr hatte man den Eindruck, einer Selbstanfeuerung beizuwohnen, die einer geringen inneren Sicherheit entspringt. Als Fazit zur Lage des Sachbuchs und der Gesellschaft bekannte ein gedrückter Günter Wallraff: „Auch ich habe versagt.“

Die Stimmung der meisten Delegierten schwankte an diesen drei Jubiläumstagen zwischen Melancholie, Wut und Staunen. Die jungen Autoren, für die der VS „eine Geschichte ist“, von der sie„nichts wissen“ und mit der sie „kaum etwas zu tun“ haben (Judith Hermann), waren ebenso plötzlich dazugekommen, wie sie wieder fort waren. Erich Loest meinte zu den Leistungen des Verbandes und dem Verhalten der Jungen großväterlich missbilligend: „Die Alten haben's gemacht und die Jungen nehmen's hin“. Der Aufbruch kam in diesen Tagen nur zu Besuch. Von Verbandsarbeit will von den Jungen niemand etwas wissen. Gut, dass der Bundespräsident schon zur Eröffnung die tröstenden Worte an die Delegierten gesprochen hatte: „Ich sage dir, steh auf und geh. Es ist dir kein Knochen gebrochen.“